Purim beziehungsweise Karneval

Wir trinken auf das Leben: Purim beziehungsweise Karneval.


Eine jüdische Stimme

Kurzfassung

Kleine und große Clowns, Ritter, Prinzessinnen, Monster, Hexen, Zebras, Hasen und andere phantasievoll gekleidete Gestalten haben sich in der Synagoge versammelt, machen Krach mit Hilfe von Rasseln, trampeln mit den Füßen, pfeifen und bringen „Buh“-Rufe aus. Und all das bei der Verlesung eines biblischen Buches?? Purim ist das Lieblingsfest jüdischer Kinder, denn sie dürfen sich nach Herzenslust verkleiden und brauchen nicht still sitzen, weil der Lärm sogar Teil der Liturgie ist. Wann immer der Übeltäter Haman genannt wird, bricht ein enormer Krach aus, um dessen Namen auszulöschen.

Das Hören der Esther-Geschichte ist das wichtigste Gebot des Festes. Daneben ist es üblich, einander Süßigkeiten und selbst zubereitete Speisen zu schenken. Das typische Gebäck für Purim sind die „Haman-Taschen“ oder „Haman-Ohren“, dreieckige, mit Mohn, Datteln oder Marmelade gefüllte Kekse. Bedürftige Menschen werden mit Lebensmitteln oder mit Geld bedacht, damit auch sie sich Festmahlzeiten leisten können. Und warum heißt es „Esther-Rolle“? Weil der Text des Esther-Buchs aus einer auf Pergament handgeschriebenen Rolle (Megillah), ähnlich einer Torah-Rolle, vorgetragen wird.

– Rabbinerin Dr.in Ulrike Offenberg


Langfassung

Kleine und große Clowns, Ritter, Prinzessinnen, Monster, Hexen, Zebras, Hasen und andere phantasievoll gekleidete Gestalten haben sich in der Synagoge versammelt, machen Krach mittels Rasseln, trampeln mit den Füßen, pfeifen und bringen „Buh“-Rufe aus. Und all das bei der Verlesung eines biblischen Buches?? Purim ist das Lieblingsfest jüdischer Kinder, denn sie dürfen sich nach Herzenslust verkleiden und brauchen mal nicht ruhig zu sitzen, weil der Lärm sogar Teil der Liturgie ist. Wann immer der Übeltäter Haman genannt wird, bricht ein enormer Krach aus, um dessen Namen auszulöschen. Die Leute rasseln, stampfen und lachen – nur mühsam beruhigt sich die Gemeinde wieder, um die Lesung fortsetzen zu können.

Es sieht aus wie Fasching, es klingt wie Karneval – aber der Anlass für das ungestüme Treiben ist ein sehr ernster. Das biblische Esther-Buch erzählt vom Leben der Juden in Persien, im Reich von König Achaschwerosch, der „über 127 Provinzen, von Indien bis Äthiopien“ regierte. Am Ende eines halbjährigen Gelages verstößt er seine Ehefrau und Königin Waschti, weil sie sich weigert, für seine betrunkenen Gäste zu tanzen. Nach einer aufwändigen „Miss-Wahl“ erkor er die Jüdin Esther zu seiner neuen Frau, weiß aber nichts von ihrer Herkunft, denn auf Geheiß ihres Onkels Mordechai verschweigt sie diese. Die Geschichte beginnt wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, aber schon bald fällt ein schwerer Schatten auf die Juden des persischen Großreichs. Des Königs Premierminister, Haman, ist ein geltungssüchtiger und machtgieriger Mann, der sich zutiefst gekränkt fühlt, weil der Jude Mordechai nicht vor ihm niederkniet. Er sinnt auf Rache und beschließt, „zu vertilgen, zu würgen und zu vernichten alle Juden, von jung bis alt, Kinder und Frauen an einem Tag (…) und ihre Habe zu plündern“ (Esth 3, 13). Das Los („Pur“) bestimmt den 13. Adar als den für dieses Massaker vorgesehenen Tag.

Als Mordechai Königin Esther auf dieses mörderische Vorhaben aufmerksam macht, zögert sie zunächst: Was kann sie als Frau schon ausrichten? Aber sie fasst sich ein Herz und schmiedet einen Plan, mit dessen Hilfe sie Haman zu Fall bringt. Am für Mordechai vorgesehenen Galgen wird nun er selbst hängen. Die Gefahr ist abgewendet: Die Juden sind gerettet, zum neuen Premierminister wird Mordechai ernannt, Esthers Zugehörigkeit zum jüdischen Volk ist nun allen bekannt. Gegen Ende des Esther-Buches wird angeordnet, fortan den 14. und den 15. Adar zu feiern als „Tage, an denen die Juden Ruhe fanden vor ihren Feinden, und zu halten den Monat, der sich ihnen verwandelte von Unglück in Freude, von Trauer zu einem Feiertag, als Tage des Festgelages und der Freude, einander Gaben zu schicken und den Bedürftigen Geschenke“ (Esth 9, 20-22).

Es kommt beim Purim-Fest nicht darauf an, ob die Esther-Rolle von historischen Ereignissen berichtet oder eher eine fiktive Erzählung ist. Gleich ob die Geschichte echt ist oder literarisch – sie widerspiegelt wahre Begebenheiten, nämlich die jahrtausendelange jüdische Erfahrung der Schutzlosigkeit inmitten anderer Völker und der Abhängigkeit von Launen lokaler Herrscher, die – sobald ihre Begehrlichkeiten nicht erfüllt wurden – zu blutigen Pogromen aufriefen. Kein Wunder, dass der seltene Erfolg im Abwenden von Massakern und Vertreibung gebührend gefeiert wird. Die zentrale antisemitische Vorhaltung, dass Juden nicht dazu gehören und wegen ihres Festhaltens an eigener Kultur und Religion der Illoyalität verdächtigt werden, findet sich schon in den Worten des Judenhassers Haman:

„Da ist ein Volk, zerstreut und versprengt unter die Völker in allen Landschaften deines Königreichs, deren Gesetze verschieden sind von denen anderer Völker; die Gesetze des Königs tun sie nicht und dem König bringt es nichts, sie gewähren zu lassen“ (Esth 3, 8).

Bereits im biblischen Buch werden die vier wesentlichen Purim-Bräuche festgelegt:

  1. Das Verlesen der Esther-Rolle,
  2. Das Abhalten einer Festmahlzeit,
  3. Das Senden von Gaben an Freunde und Nächste,
  4. Das Geben von Geschenken an Arme.

Es ist üblich, einander Süßigkeiten und selbst zubereitete Speisen zu schenken. Das typische Gebäck für Purim sind die „Haman-Taschen“ oder „Haman-Ohren“, dreieckige, mit Mohn, Datteln oder Marmelade gefüllte Kekse. Bedürftige Menschen werden mit Lebensmitteln oder mit Geld bedacht, damit auch sie sich Festmahlzeiten leisten können. Und warum heißt es „Esther-Rolle“? Weil der Text des Esther-Buchs aus einer auf Pergament handgeschriebenen Rolle (Megillah), ähnlich einer Torah-Rolle, vorgetragen wird. Wann immer bei der Verlesung der Name „Haman“ genannt wird, ertönt ohrenbetäubender Lärm.

Aber was hat es mit dem Verkleiden auf sich? Dieser Brauch ist noch nicht in der Bibel erwähnt, sondern offensichtlich von den katholischen Nachbarn in Europa abgeschaut. In Israel gibt es heute mancherorts auch Festtagsumzüge mit geschmückten Karnevalswagen, Tanzgruppen und Kapellen. In Synagogen und Schulen werden spaßige Lehrvorträge von „Purim-Rabbinern“ gehalten, ähnlich den Büttenreden. Das faschingsartige Treiben passt aber gut zu der Maxime des Purim-Festes, an diesem Tag verkehrte Welt zu spielen. Dazu gehört auch der übermäßige Konsum von Alkohol, bis man so betrunken ist, dass man nicht mehr zwischen Haman, dem Übeltäter, und Mordechai, dem positiven Held der Geschichte, unterscheiden kann. Die tiefe Wahrheit dahinter ist, dass die gesellschaftliche Ordnung nicht so bleiben muss, wie sie ist: Wer einst zu den Oberen gehörte, wird gestürzt; die Niederen werden erhöht. Und auch die Grenzen zwischen Gut und Böse sind oftmals gar nicht so eindeutig, wie wir es gern hätten. Mit Hilfe der Masken und Kostüme verwischen wir Identitäten und Fremdzuschreibungen.

All die Ausgelassenheiten von Purim können nicht verdecken, dass das Fest einen ernsten Hintergrund hat. Es wird ein triumphaler Sieg über den Antisemitismus gefeiert – wohlwissend, dass historisch viel zu selten dem mörderischen Judenhass Einhalt geboten wurde. Wir aber bekräftigen dabei unsere Zugehörigkeit zum Judentum und geben uns einmal im Jahr der Illusion hin, dass mit der Bestrafung einzelner Täter auch der Antisemitismus beseitigt wäre.

– Rabbinerin Dr.in Ulrike Offenberg


#beziehungsweise: jüdisch und christlich – näher als du denkst

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