Umkehren zum Leben beziehungsweise Antisemitismus ist Sünde

Umkehren zum Leben beziehungsweise Antisemitismus ist Sünde.


Eine jüdische Stimme

Kurzfassung

Antisemitismus hatte und hat mörderische Folgen, und selbst seine „milderen“ Varianten vergiften das Leben. Die religiös, rassisch oder politisch begründete Abwertung des Judentums fordert die jüdische Gemeinschaft zu allen Zeiten zu Antworten heraus. Manche Jüdinnen und Juden versuchten den Demütigungen zu entgehen, indem sie möglichst wenig als solche erkennbar sind und sich an die Umgebung assimilieren. Am anderen Ende des Spektrums finden sich jene, die diese Bemühungen als aussichtslos verwarfen und die Errichtung eines eigenen Gemeinwesens erstrebten, in dem Judenhass keine Chance mehr haben würde.

Jüdische Gegenwehr äußerte sich auch in vielfältigen Formen von Aufklärung, Apologetik und Entkräftung antisemitischer Anwürfe. Der Verunsicherung von außen wurde Stolz auf die eigene Kultur, Religion und Geschichte entgegengesetzt. Nur wenige ließen sich beeindrucken von christlichen Missionierungsversuchen, gleich ob sie als Zwang oder in vermeintlicher Liebe vorgetragen wurden.

– Rabbinerin Dr.in Ulrike Offenberg


Langzfassung

Wie gingen und wie gehen Juden und Jüdinnen mit Antisemitismus um?

Antisemitismus in allen seinen verschiedenen Begründungen und Ausdrucksformen zielt darauf ab, das Judentum und die Menschen, die ihm angehören, abzuwerten. Die Reaktionen von Juden und Jüdinnen auf die herabwürdigende, abschätzige Behandlung durch Nichtjuden lassen sich grob in vier Gruppen einteilen:

1. Aufgabe des Judentums

Der Umstand, dass Menschen auf Grund ihrer Zugehörigkeit des Judentums gesellschaftliche Integration und Gleichberechtigung verweigert wurde, führte bei einem kleinen Teil dazu, die negative Betrachtungsweise der nichtjüdischen Umgebung zu übernehmen und Minderwertigkeitsgefühle zu entwickeln. Sie versuchten, diesem Status zu entkommen, indem sie entweder sich taufen ließen und aus dem Judentum „austraten“. Von der christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft ist ihnen das selten gedankt worden. Die Verheißung des Heils, von Anerkennung und Zugehörigkeit zur Gesellschaft nach dem Übertritt zum Christentum hatte sich nicht in dem erhofften Maß bewahrheitet. Die Taufe wurde über die Jahrhunderte hinweg auch deshalb keine Massenerscheinung, weil getaufte Jüdinnen und Juden auch in den Kirchen randständig blieben. Die Bezeichnung „Marranos“ für die spanischen Juden des 14.-16. Jahrhunderts, die sich angesichts der Alternative „Taufe oder Tod/Exil“ für die Konversion entschieden, ist ein christliches Schimpfwort, das verdeutlicht, wie wenig diese Menschen mit offenen Armen aufgenommen wurden. Und auch angesichts der nationalsozialistischen Verfolgung von „Nichtarischen Christen“ gab es keine kirchliche Massenbewegung, die sich schützend vor sie stellte. Mit dem rassischen Antisemitismus war die Hoffnung auf ein Entkommen aus dem Judentum durch einen Religionswechsel hinfällig geworden.

2. Unsichtbarkeit des Judentums

In der Absicht, Akzeptanz und Gleichberechtigung zu erlangen, gleichzeitig aber am Judentum festzuhalten, kam es seit dem 19. Jahrhundert bei vielen zu einer Anpassung an antisemitische Erwartungen. Man betonte universalistische und rationale Komponenten des Judentums, die Religionsausübung wurde ganz ins Private verdrängt. In unterschiedlichem Ausmaß wurde die Abwertung der Umgebung übernommen und man versuchte, nicht aufzufallen. Tatsächliche oder zugeschriebene jüdische Eigenheiten wurden versteckt, z.B. durch Namensänderungen (z.B. Hirsch zu Hermann, Gitl zu Gerda) und eine betont bürgerliche Lebensweise. Andere Juden, die der verinnerlichten Erwartung der nichtjüdischen Gesellschaft nicht entsprachen, wurden als peinlich empfunden und man versuchte, sich von ihnen zu distanzieren. Antisemitischen Vorurteilen begegnete man mitunter durch Überkompensation, z.B. durch besondere Großzügigkeit und Mäzenatentum, um die üble Nachrede von Geiz und Geldgier zu widerlegen.

3. Bekämpfung des Antisemitismus

Die Versuche, judenfeindliche Anwürfe durch Aufklärung zu entkräften, gehen bis in die Antike zurück. Die Fülle apologetischer Schriften würde viele Regale füllen. Im Mittelalter wurden die klügsten Köpfe in die aufgezwungenen theologischen Disputationen entsandt, wo sie aber von vornherein keine Chance hatten, mit ihren Argumenten zu überzeugen. Der 1893 gegründete „Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ entfaltete umfangreiche publizistische, politische und rechtliche Aktivitäten, um antisemitische Anfeindungen zurückzuweisen. Allerdings blieben all diese Bemühungen ohne großen Erfolg. Die Vorurteilsforschung hat gezeigt, dass die psychologischen Mechanismen, die zur Ausprägung von Judenhass führen, durch rationale Argumentation nicht erreicht werden. Aber es kommt darauf an, antisemitische Stereotype aufzudecken und Menschen zu immunisieren, bevor sie zu solchen Feindbildern greifen. Darum engagieren sich viele jüdische Gemeinden, Institutionen und Individuen auch heute gegen Antisemitismus, indem sie über das Judentum informieren, Verleumdungen zurückweisen, politische und gesellschaftliche Akteure mobilisieren und ihre Hoffnung auf zwischenmenschliche Begegnungen und auf Pädagogik richten.

4. Stärkung jüdischer Identität

Eine wichtige Antwort auf die antisemitischen Herabwürdigungen war die Bekräftigung der Zugehörigkeit zum Judentum. Wenn alle Bemühungen um kulturelle Anpassung nichts fruchten, bleibt nur die Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln. Der Stolz auf die eigene Religion, Geschichte, Kultur, auf Errungenschaften und Leistungen von Juden und Jüdinnen in Vergangenheit und Gegenwart wurde zum Gegenmittel gegen die Abwertung durch die Umgebungsgesellschaft. Auch die Entstehung der zionistischen Bewegung ist ein Ergebnis der von den europäischen Gesellschaften verweigerten Integration: Gleichberechtigung sei für Juden nur innerhalb eines eigenen Nationalstaats zu erreichen. Vor Antisemitismus seien Juden und Jüdinnen nur dann sicher, wenn sie die Mehrheitskultur in einem Gemeinwesen bilden. Gerade für säkularisierte Juden, für die die jüdische Religion keine große Bindungskraft mehr hatte, war und ist das Verständnis von Judentum als einer Nation, einer ethnischen, kulturellen und historischen Gemeinschaft ein Identifikationsangebot. Den antisemitischen Anfeindungen des Judentums wird mit kultureller Selbstbehauptung begegnet: Durch die Vertiefung traditionellen jüdischen Lernens, die wissenschaftliche Erforschung des Judentums, die Gestaltung jüdischer Themen in Kunst, Literatur und Musik, durch jüdische Philosophie und politische Theorie, durch die Stärkung hergebrachter Gemeindearbeit und die Schaffung neuer Formen von Organisations- und Ausdrucksformen.

Judenmission

Es ist beinahe erstaunlich, wie geringfügig nur die zwei Jahrtausende währende christliche Abwertung des Judentums es vermochte, bei Juden und Jüdinnen fundamentale Zweifel an ihrer Religion zu wecken. Weder wurde das Vertrauen in Gott noch in die Gültigkeit des Bundes zwischen Israel und Gott erschüttert. Furchtbare Massaker wie die Kreuzzüge oder die Chmelnizki-Pogrome in Osteuropa führten nicht zu massenhaften Bekehrungen. Eher brachten sie Märtyrertum hervor und Gebete wie das Kaddisch und das El Male Rachamim, die bis heute unverzichtbarer Bestandteil jüdischer Liturgie sind. Sie drücken Gotteslob und Trauer aus, aber nicht ein grundsätzliches Zweifeln an Gott. Die Schoah hat die unlösbare Frage „Wo war Gott in Auschwitz?“ aufgeworfen, auf die individuelle Antworten versucht werden. Und durch die Option säkularer Lebensweise ist es möglich, den Glauben an Gott oder jüdische Religionsausübung abzulehnen, aber dennoch im Judentum und im Mainstream jüdischen Lebens zu verbleiben.

Wenngleich christliche Missionsbemühungen wenig Erfolg hatten, reagieren Juden und Jüdinnen doch allergisch gegen alle Formen von Judenmission. Denn selbst wenn diese im Gewand der Liebe daherkommt, spricht sie dem Judentum die Existenzberechtigung ab, indem sie erklärt, die Zusage über ein besseres oder höheres Heil zu besitzen. Mit Misstrauen werden auch Aktivitäten beobachtet, die auf eine christliche Aneignung jüdischer Symbole, Zeremonien und Ritualgegenstände zielen. Sie sind eine Enteignung und Usurpation jüdischer Traditionen. Dies geschieht teilweise bewusst in missionarischer Absicht, z.B. indem ein Tallit mit Versen aus dem Neuen Testament bestickt wird, in anderen Fällen ist es Gedankenlosigkeit. Selbst Christinnen und Christen, die die Judenmission ablehnen und in guter Absicht Judentum und Israel in die eigene religiöse und liturgische Praxis integrieren wollen, begeben sich hier aufs Glatteis.

– Rabbinerin Dr.in Ulrike Offenberg


#beziehungsweise: jüdisch und christlich – näher als du denkst

Zurück zur Übersicht