Das christliche Jahr

Der christliche Jahreskreis, auch Kirchenjahr genannt, hat eine enge innere Abhängigkeit vom jüdischen Jahreskreis. Denn im Frühchristentum entwickelte sich der christliche Zyklus aus den jüdischen Feiertagen und in Anlehnung an den jüdischen Jahreskreis. Zunächst wurden die Hauptfeste Weihnachten, Ostern und Pfingsten gefeiert, nach und nach auch andere. Das Kirchenjahr kennt drei große, aufeinander folgende Teile gegliedert: Auf den Weihnachtskreis folgt der Osterkreis. Nach Pfingsten schließt sich in der evangelischen Kirche die Trinitatiszeit (von lat. „trinitas“ – Dreifaltigkeit), in der katholischen Kirche als „Zeit im Jahreskreis“ benannt, an.

Der Grundgedanke des christlichen Jahreskreises besteht darin, Gottes dreifaltiges Wirken in der Heilgeschichte sichtbar zu machen. Dazu gehören das Leben, Wirken, aber auch Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi, das Wirken des Heiligen Geistes und die Heilsgeschichte des Ewigen mit seinem auserwählten Volk. Danach richten sich in der evangelischen und katholischen Tradition an Sonn- und Festtagen die Textlesungen aus der Tora, den Propheten, den Schriften – diese Texte werden in Beziehung zur christlichen Heilserwartung gesetzt – sowie die Lesungen aus den vier Evangelien, der Apostelgeschichte, den Briefen an die christlichen Gemeinden sowie der Offenbarung des Johannes. Jedem Sonn- und Festtag sind somit bestimmte Texte zugeordnet. Das ist in der Perikopenordnung bzw. Leseordnung festgelegt. An den Wochentagen findet die sogenannte Bahnlesung statt – ähnlich wie im Judentum.

Das christliche liturgische Jahr beginnt im Spätjahr. Hier besteht ebenfalls eine Übereinstimmung zum Judentum. Orthodoxe Christen beginnen es am 1. September, vor dem Festtag Mariä Geburt. In den reformatorischen Kirchen und in der katholischen Tradition beginnt das Kirchenjahr am Vorabend des ersten Adventssonntags. Mit dem Beginn wichtiger Feste am Vorabend des Festtags selbst, in der Regel mit der ersten Vesper, hat das Christentum den jüdischen Brauch übernommen wie er beispielsweise am Beginn des Schabbats erkennbar wird.

Der christliche Advent ist eine Fastenzeit und dient der Vorbereitung auf die Geburt Jesu. Deshalb stehen Buße und intensives Schriftstudium im Vordergrund. Geistliche Gesänge sollen dies unterstützen. In vielen vor allem orthodoxen oder altorientalischen Kirchen wird die Fastenzeit sehr streng eingehalten. Die Adventszeit bildet einen Schwerpunkt im christlichen Jahr. Sie ist geprägt von Lesungen aus dem Buch des Propheten Jesaja, der das Kommen des Erlösers ankündigt.

Christinnen und Christen glauben, dass mit der Geburt Jesu dieser Erlöser gekommen ist. Dementsprechend groß wird das Weihnachtsfest gefeiert. In den verschiedenen christlichen Konfessionen wird es an unterschiedlichen Terminen gefeiert. Hinzukommen regionale Bräuche. In Deutschland feiern evangelische, reformierte und katholische Christinnen und Christen Weihnachten am 25. Dezember. Der 24. Dezember ist der Vorabend und hat als „Heilige Nacht“ große kulturelle Bedeutung erlangt. Die Bescherung unter dem Tannenbaum gehört in Deutschland zu einem weit verbreiteten Brauch. Es ist das Fest der Familie und hat hohen emotionalen Wert.

Der Weihnachtsfestkreis dauert in der katholischen Tradition bis zum Fest Taufe des Herrn. Es wird am Sonntag nach Epiphanias, das bedeutet auf Griechisch Erscheinung, gefeiert. In Deutschland hat sich zum Fest der Erscheinung des Herrn die Anbetung Jesu durch die Weisen als wichtigster Festinhalt durchgesetzt. So ziehen an diesem Tag die Sternsinger durch die Straßen. Die orthodoxen Kirchen feiern zu Epiphanie vor allem die Taufe Jesu. Daran erinnert in der katholischen Kirche die Wasserweihe, die an diesem Festtag stattfindet.

Die nächste wichtige und geprägte Zeit ist die Passions- oder Fastenzeit vor Ostern. Sie beginnt mit dem Aschermittwoch, der die regional als „Fasching“, „Karneval“ oder auch „Fastelovend“ bekannten Bräuche beendet und 40 Tage lang auf das Osterfest vorbereiten soll. Darum wird das ausgelassene Feiern vor der Fastenzeit auch „Karneval“ genannt, vom lateinischen „carne levare“ für „Fleisch wegnehmen“ – es folgt ja die Fastenzeit, in der einige christliche Konfessionen ganz auf Fleischkonsum verzichten. Je näher der Palmsonntag, der an den Einzug Jesu in Jerusalem erinnern soll, rückt, desto mehr steht die Betrachtung des Leidens Jesu im Vordergrund. Der Palmsonntag markiert den Beginn der Karwoche (vom althochdeutschen „kara“ für Klage oder Kummer) oder Heiligen Woche.

Das Osterfest, das in zeitlicher Nähe und je nach Kalender sogar parallel zum Pessachfest stattfindet, bildet den Höhepunkt des christlichen Jahres. Vor allem in der Karwoche kulminiert das Gedenken an Jesus Christus. Deshalb steht die Erinnerung an das Wirken Jesu im Vordergrund: Am Gründonnerstag (wahrscheinlich vom mhd. „greinen“ für Weinen, Klage) das Letzte Abendmahl, am Karfreitag Leiden und Sterben, am Karsamstag die Grabesruhe sowie in der Osternacht, am Ostersonntag und Ostermontag die Auferstehung und die Erlösung durch ihn. Dieses Gedenken an die Auferstehung feiern Christinnen und Christen an jedem Sonntag. Deshalb dürfen die Kar- und Ostertage auch als wichtigstes Fest des Christentums bezeichnet werden. Obgleich mit dem jüdischen Pessachfest verwandt, zeigt sich an diesem Fest eine große innere Spannung zum Judentum.

Verschiedene kulturelle Bräuche umrahmen die Kar- und Ostertage, beispielsweise die Eiersuche am Ostersonntag oder das Backen von Lämmern, was an Christus als Lamm Gottes erinnern soll. An den Ostersonntag schließt sich die österliche Freudenzeit oder Festzeit als geprägte Zeit an. Sie dauert fünfzig Tage bis zum Pfingstfest und entspricht damit von der Dauer dem Intervall zwischen Pessach und Schawuot im Judentum.

Beim Pfingstfest, das auf Schawuot zurückgeht, feiern Christinnen und Christen die Herabsendung des Heiligen Geistes. Damit hängt die Offenbarung des dreieinen Gottes zusammen. Deshalb wird der Sonntag nach Pfingsten als Dreifaltigkeitssonntag oder „Trinitas“ gefeiert. Das Pfingstfest wird als Gründungsfest der Kirche verstanden. Die Ökumene, also die Einheit der Christenheit, steht deshalb ebenso im Fokus dieses Festes. In vielen Städten finden um Pfingsten ökumenische Gottesdienste statt.

Der Jahreskreis kennt daneben noch eine Zahl weiterer wichtiger Festtage, beispielsweise das Erntedankfest, das eine Verwandtschaft zu Sukkot aufweist, den Buß- und Bettag oder den Reformationstag in der evangelischen und reformierten Tradition, Christi Himmelfahrt und Fronleichnam in der katholischen Tradition. In der orthodoxen und katholischen Tradition werden Gedenktage der Heiligen gefeiert, um dadurch den Gläubigen Wege zu Gott durch das Vorbild besonderer Menschen aufzeigen zu können. Ein wichtiger Gedenktag ist beispielsweise der Johannistag am 24. Juni, Gedenktag von Johannes dem Täufer.

Das christliche Jahr möchte den Menschen Orientierung und Sinnstiftung vermitteln. Dies geschieht, indem ein wichtiger Gedanke des Judentums aufgegriffen wird: Vergegenwärtigung und Gedenken sollen – aus christlicher Sicht – die Heilsgeschichte des dreieinen Gottes mit den Menschen erfahrbar und erlebbar machen. Dies drückt sich besonders im Gedächtnis an Jesus Christus aus, das in jedem Gottesdienst gefeiert wird. Damit steht der christliche Jahreskreis auf dem Fundament der jüdischen Überlieferung. Im Gedächtnis vergegenwärtigen wir uns die Taten Gottes. Im Nachvollzug der Feste feiern wir nicht nur als Gemeinschaft, sondern werden wir als Einzelne und Einzelner dazu ermutigt, Gott, aber immer wieder auch den Nächsten näher zu kommen.

– Dr. Fabian Freiseis. Leiter des Referats und Referent für den Dialog mit dem Judentum und Kulturen des Erzbistums Freiburg.