Purim beziehungsweise Karneval

Wir trinken auf das Leben: Purim beziehungsweise Karneval.


Eine christliche Stimme

Kurzfassung

Prächtige Prinzenwagen von Düsseldorf bis Mainz, spärlich bekleidete sambatanzende junge Frauen in Rio, vornehme Masken in Venedig, urtümliches Geistertreiben in Rottweil und Luzern – das sind Bilder, die beim Stichwort „Karneval“ aufsteigen. Dass „Karneval“ ursprünglich die Tage vor dem Beginn der vorösterlichen Fastenzeit im Christentum bezeichnet, ist heute wohl zunehmend weniger bewusst.

Traditionell verzichteten Christen und Christinnen in den vierzig Tagen vor Ostern auf den Verzehr von Fleisch und schränkten auch sonst ihr Leben ein. An Karneval sagte man „dem Fleisch Lebwohl“ („carne vale“).

Hier durfte aber auch die Welt auf den Kopf gestellt werden. Spott auf die Herrschenden, Tanz, fette Speisen und ausgiebiger Alkoholkonsum gehörten dazu. Bezeichnungen wie das rheinische „Fastelovend“ („Fast-Abend“) oder „Fastnacht“ erinnern daran, dass Karneval eine Art Schwelle oder Übergang darstellt zwischen dem Leben im Alltag und der Zeit der Vorbereitung auf das Fest der Auferstehung Christi. Die „tollen Tage“ bergen aber auch ein utopisches Moment: dass das Leben mit seinen oft harten Begrenzungen und Ungerechtigkeiten nicht alles ist…

– Marie-Theres Wacker


Langfassung

Dass die Zeit des Karneval in den Rahmen des christlichen Kirchenjahres eingespannt ist, merkt man den Tagen der „verkehrten Welt“ am Rhein, im alemannischen Süddeutschland und der Schweiz, in Venedig oder auch in Rio nicht unmittelbar an. In Köln z.B., einer Hochburg des rheinischen Karnevals, gilt aber nach wie vor das Motto „Fastelovend und Kirche gehören fest zusammen“. Anfang Januar, wenn die „Session“ mit den zahllosen Sitzungen des Saalkarneval beginnt, findet ein festlicher Gottesdienst im Dom statt. Die Karnevalsvereine der Stadt nehmen mit ihren Fahnen und in bunten Kostümen daran teil, und der Domorganist zieht das Register „Loss Jon“ (=lass gehen; los geht‘s) an der Schwalbennestorgel. Dadurch wird ein Mechanismus ausgelöst, der das Karnevalslied „Am Dom zu Kölle“ erklingen lässt und eine Klappe unter dem Pfeifenprospekt öffnet, durch die ein Kopf mit Narrenkappe lugt.

Was aber macht ein Narr im christlichen Gotteshaus; wie gehören Karneval und das Kirchenjahr zusammen? Traditionell verzichteten Christen und Christinnen in den vierzig Tagen vor Ostern auf den Genuss von Fleisch und schränkten auch sonst ihr gewohntes Leben ein. Die Karnevalstage liegen unmittelbar vor dieser auch heute noch so genannten Fastenzeit. An Karneval sagte man gewissermaßen „dem Fleisch Lebwohl“ (carne vale). Nach einer anderen, wohl wissenschaftlich genaueren Erklärung ist Karneval der Moment, wo das „Fleisch weggenommen“ wird (carnis levamen). An Karneval durfte man aber auch die Welt auf den Kopf stellen. Von derartigen Bräuchen haben wir Quellen seit dem Mittelalter. Spott auf die Herrschenden in Staat und Kirche, aber auch auf die oft starren Ordnungen in Gesellschaft und Familie äußerte sich in derben Theaterspielen. Ausgiebig wurde getanzt und dem Alkohol zugesprochen. Es kamen noch einmal fette Speisen auf den Tisch. Von daher stammt die schwäbisch-alemannische Bezeichnung „schmotziger Dunschtig“ / schmalziger Donnerstag für den Donnerstag vor dem Karnevalssonntag. Auch in Venedig kennt man den „giovedi grasso“, den fetten Donnerstag, und im Französischen heißt der letzte Tag der Karnevalszeit „mardi gras“ / fetter Dienstag.

Mit dem Aschermittwoch beginnt die Fastenzeit. Bezeichnungen wie das rheinische „Fastelovend“ (Fast-Abend) oder auch „Fastnacht“ für den Karneval erinnern daran, dass diese tollen Tage eine Art Schwelle oder Übergang darstellen zwischen dem Leben des Alltags und der Zeit der Vorbereitung auf das Fest der Auferstehung Christi. Den Reformatoren des 16. Jahrhunderts ging die verkehrte Welt dieser Tage mit ihren Ausschweifungen zu weit, weswegen sie dagegen predigten. So erklärt es sich, dass Fastnachtsbräuche vor allem in traditionell katholischen Gebieten gepflegt werden. Und manche Karnevalslieder in Köln haben nicht nur allgemein religiöse Themen, sondern greifen tief in das Repertoire spezifisch katholischer Motive. Die Ausgestaltung der „tollen Tage“ hat ihre heutigen Formen allerdings erst ab dem frühen 19. Jahrhundert gewonnen. Der alemannische „Mummenschanz“ mit seinen grotesken Masken und dem unheimlichen Trommeln und Rasseln scheint dabei wohl gegen die feinere, bürgerliche Fastnacht am Rhein wiederbelebt worden zu sein und erinnert eher an das Austreiben der Wintergeister als an christliche Ursprünge.

Fast-Nacht als Bezeichnung der Tage vor der Fasten-Zeit bringt den Karneval in Beziehung zu einer Zeit des bewusst gewählten Verzichts. In der christlichen Tradition wurde dies als sichtbarer und spürbarer Ausdruck einer Gesinnung betrachtet, die sich vor Gott als Sünder sah und Buße tat. Auch heute können Christinnen und Christen diese Zeit individuell nutzen, um ihr Leben, auch und gerade vor Gottes Angesicht, kritisch zu überprüfen und ihm vielleicht neue Ausrichtungen zu geben. In manchen christlichen Gemeinden wird in der Fastenzeit vermehrt ein ökologisches Engagement angestoßen, und der Blick richtet sich verstärkt auf Not und Ungerechtigkeiten vor der eigenen Haustür, aber auch weltweit.

Der Karneval mit seiner Einbindung ins Kirchenjahr lebte lange aus der selbstverständlichen öffentlich-gesellschaftlichen Präsenz des Christentums mit seinen Riten, Bräuchen und Vorschriften. Gegenwärtig hat er sich ein ganzes Stückweit von dieser traditionellen Beziehung abgelöst und steht als Zeit der „verkehrten Welt“ in sich. Wer in ein Kostüm schlüpft, kann neue Rollen, eine neue Haut ausprobieren, die im gewöhnlichen Alltag nicht zum Tragen kommt. Mit ihrer eigenen Dynamik der „tollen Tage“ ist die Karnevalszeit Ausdruck unbändiger Lebensfreude. Dazu kommt ein kritischer Akzent: Narren an den Fürstenhöfen durften und sollten den Herrschenden den Spiegel vorhalten; Narren bei der Büttenrede schonen weder die Einflussreichen in der Politik noch die Würdenträger in den Kirchen. So gesehen hat der Karneval auch utopische Momente: dass das Leben mit seinen oft harten Begrenzungen und Ungerechtigkeiten nicht alles ist; dass die Herrschaft der Herren auch angezweifelt werden kann.

Die feste Einbindung des Karneval ins christliche Kirchenjahr war mitverantwortlich dafür, dass antijüdische Ressentiments gegen das Purimfest nicht nur in der Nazipropaganda, sondern auch auf christlicher Grundlage gedeihen und zum Ausbruch kommen konnten. Die „verkehrte Welt“ hatte sich selbstverständlich nach dem christlichen Festkalender zu richten – und Purim fällt meistens in die Fastenzeit, also die Zeit des christlichen Verbots von Festen, Feiern und Fröhlichkeit. Christen nahmen Anstoß am Tanzabend der Juden zu Purim, und wenn Purim und Karfreitag auf das gleiche Datum fielen, konnten sich die antijüdischen Ausschreitungen der Christen am Tag der Kreuzigung Jesu noch zusätzlich aus der Wut nähren, dass Juden keinen Respekt vor den christlichen Ordnungen kennen. Auch heute ist ein Zusammentreffen von Karfreitag und Purim nicht problemlos: die Bundesrepublik Deutschland kennt gesetzlich verankerte sogenannte „stille Tage“ mit dem Verbot öffentlicher Vergnügungen, Tage, die sich mit Ausnahme des Volkstrauertages ausschließlich am christlichen Kalender orientieren, allen voran der Heilige Abend (24.12.) und der Karfreitag. Im Jahr 2016, als wieder einmal Karfreitag und Purim zusammenfielen, konnte der jüdische Studentenverband München immerhin eine Purimparty organisieren – mit einer Sondergeneh­migung der Stadtverwaltung.

Gegenwärtig wird vielerorts der Karneval als Projekt verstanden, an dem ganz praktisch die Bürgerinnen und Bürger einer Gemeinde oder Stadt zusammen feiern. Im Düsseldorfer Rosenmontagszug 2019 und 2020 fuhr der „Toleranzwagen“ mit, der einen katholischen Pastor, eine evangelische Pfarrerin, einen Rabbiner und einen Imam zeigte, alle mit roter Pappnase und der Geste des „Helau“. Die Ursprungsidee war von der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf ausgegangen.

– Marie-Theres Wacker


#beziehungsweise: jüdisch und christlich – näher als du denkst

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