Sachor beziehungsweise 9. November

Erinnern für die Zukunft: Sachor beziehungsweise 9. November.


Eine christliche Stimme

Kurzfassung

»Zwei und ein halbes Jahr stritten die vom Lehrhaus Schammais mit denen des Lehrhauses Hillel über die Konsequenzen des bösen Tuns der Menschen. Die einen sagten: Es wäre dem Menschen dienlicher, wenn er nicht erschaffen worden wäre.
Die anderen sagten, es ist dem Menschen dienlicher, dass er erschaffen worden ist. Sie stimmten ab und kamen zu dem Schluss: Es wäre dem Menschen zwar dienlicher, er wäre nicht erschaffen worden, da er nun aber erschaffen sei, soll er seine Geschichte bedenken und sein Tun in der Zukunft.« (Babylonischer Talmud, Eruvin 13 b)

Ein hochaktueller uralter Text, der für die Frage nach Wegen der Erinnerung und des Gedenkens als Ausgangstext nicht nur am 9. November taugt. Zukunft ist Erinnerung und alle Versuche, ohne den Prozess die eigene »Geschichte zu bedenken«, »zu tun«, also handlungsfähig zu werden, werden scheitern. Dabei macht dieser Text auch auf eine Orientierung deutlich, ohne die Erinnerung nicht auskommt. Denn wie wir auch wissen, ist Erinnerung nicht per se auf eine Zukunft in Gerechtigkeit und Frieden ausgerichtet. Es gibt auch Erinnerung an vergangene durch Gewalt entstandene Größe oder eben auch leider Erinnerungen an die Nazizeit, die sich nach so einer germanischen Herrschaft sehnen, oder nach einem weißen Europa.

Biblisch geht es aber um die Vermeidung von gewaltvollem bösen Tun. Es geht um Erinnerung, die Ernst macht mit der Ebenbildlichkeit Gottes aller Menschen und damit eben der Teilhabe und der Gleichwertigkeit aller Menschen. Nun ist der Talmud kein christlicher Text. Dass wir ihn überhaupt als Christ*innen wertschätzend wahrnehmen, ist wohl auch ein Ergebnis von Erinnerung. Erinnerung daran, dass unsere Kirchengeschichte vor Missachtung und Gewalt gegen Juden nur so strotzt und dass wir uns von dieser Missachtung abkehren müssen – Erinnerung als Umkehr. Denn diese eigen Gewaltgeschichte zu bedenken und danach zu tun, führt uns in eine demütigen und wertschätzenden Zugang zu jüdischem Denken und zu der Frage, warum musste diese Schwester im Glauben, das Judentum, von Christ*innen so abgewertet, diskriminiert und verfolgt werden. Diese Frage ist am 9. November heute besonders naheliegend. Denn Erinnerung ist Aufruhr auch gegen die eigenen bis in die Gegenwart wirksamen judenfeindlichen Traditionen. Solche Erinnerung gestaltet Zukunft. Gehen wir denken und tun danach.

– Christian Staffa


Langfassung

»Zwei und ein halbes Jahr stritten die vom Lehrhaus Schammais mit denen des Lehrhauses Hillel über die Konsequenzen des bösen Tuns der Menschen. Die einen sagten: Es wäre dem Menschen dienlicher, wenn er nicht erschaffen worden wäre.
Die anderen sagten, es ist dem Menschen dienlicher, dass er erschaffen worden ist. Sie stimmten ab und kamen zu dem Schluss: Es wäre dem Menschen zwar dienlicher, er wäre nicht erschaffen worden, da er nun aber erschaffen sei, soll er seine Geschichte bedenken und sein Tun in der Zukunft.« (Babylonischer Talmud, Eruvin 13 b)

Ein hochaktueller uralter Text, der für die Frage nach Wegen der Erinnerung und des Gedenkens als Ausgangstext nicht nur am 9. November taugt. Zukunft ist Erinnerung und alle Versuche, ohne den Prozess die eigene »Geschichte zu bedenken«, »zu tun«, also handlungsfähig zu werden, werden scheitern. Dabei macht dieser Text auch auf eine Orientierung deutlich, ohne die Erinnerung nicht auskommt. Denn wie wir auch wissen, ist Erinnerung nicht per se auf eine Zukunft in Gerechtigkeit und Frieden ausgerichtet. Es gibt auch Erinnerung an vergangene durch Gewalt entstandene Größe oder eben auch leider Erinnerungen an die Nazizeit, die sich nach so einer germanischen Herrschaft sehnen, oder nach einem weißen Europa.

Biblisch geht es aber um die Vermeidung von gewaltvollem bösen Tun. Es geht um Erinnerung, die Ernst macht mit der Ebenbildlichkeit Gottes aller Menschen und damit eben der Teilhabe und der Gleichwertigkeit aller Menschen. Nun ist der Talmud kein christlicher Text. Dass wir ihn überhaupt als Christ*innen wertschätzend wahrnehmen, ist wohl auch ein Ergebnis von Erinnerung. Erinnerung daran, dass unsere Kirchengeschichte vor Missachtung und Gewalt gegen Juden nur so strotzt und dass wir uns von dieser Missachtung abkehren müssen – Erinnerung als Umkehr. Denn diese eigen Gewaltgeschichte zu bedenken und danach zu tun, führt uns in eine demütigen und wertschätzenden Zugang zu jüdischem Denken und zu der Frage, warum musste diese Schwester im Glauben, das Judentum, von Christ*innen so abgewertet, diskriminiert und verfolgt werden. Diese Frage ist am 9. November heute besonders naheliegend. Damals war dieses Be- und Gedenken leider sehr rar. Einer, der das am Bußtag 1938 tat, war Helmut Gollwitzer:

„Wer soll denn heute noch predigen?… Ist uns nicht allen der Mund gestopft an diesem Tage?…Was hat nun uns und unserm Volk und unserer Kirche all das Predigen und Predigthöern genützt, die ganzen Jahre und Jahrhunderte lang…?“ Er endet damit, dass Jesus Christus darauf wartet, dass wir dem Nächsten da draußen im November 1938, der „notleidend, schutzlos, hungernd, gejagt und umgetrieben von der Angst um die nackte Existenz…“ ist, dass wir Buße tun, dass wir unser antijüdisches Tun bedenken und – dass wir umkehren.

Der 10. November ist Luthers Geburtstag, was nicht wenigen Anlass war, seine antijüdischen, ja protoantisemitischen Gewaltphantasien 1939 in Erfüllung gehen zu sehen.

Nun hat sich in den Jahrzehnten nach 1945 doch viel getan in unseren Kirchen und in mancher akademischer Theologie. Wir sollten das angesichts der so langen Zeit der Judenfeindschaft unserer Kirchen und der so kurzen Zeit der Umkehrphase nicht gering schätzen. Allerdings sollte uns auch kein Stolz angesichts der vollzogenen Wandlungen befallen. Paulus würde das wohl mit seiner schönen Formulierung aus anderen Kontexten aus Kopf und Herzen schlagen: „Sollen wir uns dessen rühmen, das sei ferne!“

Aber so grundlegend wir die Position zum Judentum auch neu formulieren, wir legen zu oft keine Rechenschaft darüber ab, warum es denn in der Kirchengeschichte zu dieser gewaltförmigen Negativsicht auf das Judentum gekommen ist. Welche Mechanismen waren wirksam und welchen müssen wir immer noch Aufmerksamkeit widmen. Zusätzlich – und hier ist sicher eine Brücke in die säkularen Aufarbeitungskontexte – hört auch im christlichen, vielleicht in jedem kulturellen Gedächtnis, der – biblisch theologisch gesprochen „sündige“ – Hang zur Selbstidealisierung nicht auf, der sich mit gebrochenen und fragmentierten unsicheren Selbstbildern nicht abzufinden vermag.

Das scheint mir zu (mindestens) zwei parallelen Strängen christlicher Erinnerung zu führen:

  1. Kann es uns immer noch mit Gollwitzer angesichts der Ungeheuerlichkeit kirchlichen Verrates an den jüdischen Geschwistern, der eben nicht mit dem Naziregime begann, einfach die Sprache verschlagen. So dass auch heute noch Schweigen manchmal angemessener ist als wortreiches Gedenken.
  2. Müssen wir und dürfen wir sprechen von dem Versagen und ja auch wenn es etwas unmodern geworden ist von Schuld, aber eben auch von dem Dank für alle jüdischen Gesprächspartner*innen, die uns und mit denen wir den Reichtum jüdischer und damit auch biblisch theologischer Denkwelten neu oder überhaupt erst entdeckten und damit auch eine neue Form von Christ*in sein.

Solches Erinnern bedeutet dann auch eine Verantwortungsübernahme, also ein Tun, die um die eigene Gefährdung weiß, in der Theologie wie auch in unseren Gottesdiensten in antisemitische Muster zu verfallen, oder die, den Prozess des Bedenkens und Tun für nun doch wohl abgeschlossen zu erklären. 

Solches Erinnern verändert unser kirchliches Handeln immer wieder neu, wie auch, wenn es gelingt, die Gesellschaft um uns herum.   

Solches Erinnern füllte den manchmal so schwer zugänglichen Begriff der lebensspendenden Gnade, die keine billige ist, sondern durch die Untiefen der Verzweiflung an dieser Kirchengeschichte durchschreitet. Denn Erinnerung ist Aufruhr auch gegen die eigenen bis in die Gegenwart wirksamen judenfeindlichen Traditionen. Solche Erinnerung gestaltet Zukunft. Gehen wir denken und tun danach.

– Christian Staffa


#beziehungsweise: jüdisch und christlich – näher als du denkst

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