Chanukka beziehungsweise Weihnachten

Wundervoll: Chanukka beziehungsweise Weihnachten.


Eine christliche Stimme

Kurzfassung

„Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“ Wenige Sätze, und eine ganze Geschichte steht vor dem inneren Auge. Eine Geschichte von Obdachsuche und Heimat, von wunderbarer Geburt und großen Verheißungen, die in der Nacht aufleuchten. Es ist das Evangelium, das in der Heiligen Nacht in den Kirchen gesungen wird.

Das Weihnachtsfest hat eine lange Geschichte und ist in den Kirchen der Christenheit unterschiedlich ausgeprägt. Am 25. Dezember ist es in Rom erst seit dem Jahr 336 bezeugt. Von Ägypten her kommt das Fest Epiphanie, die Erscheinung des Herrn vor der Schöpfung, das in den Ostkirchen im Zentrum des Weihnachtsfestes steht. Deshalb wird an diesem Tag eine feierliche Segnung des Wassers begangen.

Im Westen wiederum ist das Epiphaniefest am 6. Januar mit der Ankunft der „Heiligen drei Königen“ verbunden, den Vertretern der Völker vor dem König in der Krippe.

Natürlich stellen sich alle Christinnen und Christen eine Geschichte vor, am liebsten die innigste, die mit der Kindheit verbunden ist. Vielleicht ist sie die wahrste. Denn sie verbindet mit dem Staunen über die wundervolle Botschaft: „Die Gnade Gottes ist erschienen um alle Menschen zu retten.“ (Tit 2,11)

– Prof. Dr. Margareta Gruber OSF
Lehrstuhl für Exegese des Neuen Testaments und Biblische Theologie
Philosophisch-theologische Hochschule Vallendar


Langfassung

„O komm und errette den Menschen, den du aus Erde gebildet!“

Die weihnachtlichen O-Antiphonen – ein christliches Gebet in der Beziehung zu Israel

Weihnachten, das Fest der Geburt Christi, ist in unserer westlichen Kultur das bekannteste und dennoch das am stärksten entfremdete der christliche Feste. Darin teilt es mittlerweile das Schicksal des Chanukkahfestes. Beide gehen unter im Glitzer der Lichterketten und Scheppern der Lieder in Endlosschleife. Dennoch: Es gibt kein Wort, das so sehr mit Sehnsucht verbunden ist – und ist es nicht die nach der verlorenen Kindheit? – , als das Wort „Weihnachten“. Im Jahr der Pandemie 2020 wurde es für kurze Zeit zum Inbegriff von Nähe, Wärme und Geborgenheit, bevor die Gesellschaft wieder in die Distanz auseinanderstob.

Die christliche Liturgie kennt, wie die jüdische Tradition, ein Zugehen auf das Fest in Schritten, die in der Liturgie und in den Familien begangen werden. Es gibt den Adventskranz mit seinen vier Kerzen, die allwöchentlich neu entzündet werden. Es gibt aber in den letzten sieben Tagen vor dem Fest noch einmal eine Intensivierung der Erwartung, die dem achttäglichen Entzünden des Chanukkahleuchters ähnelt: Vom 17. bis 23. Dezember werden in der Vesper, im kirchlichen Abendgebet, die so genannten O-Antiphonen gesungen. Das sind sieben lateinische Anrufungen Christi, in denen sich die sehnsüchtige Erwartung auf den Erlöser „aus Finsternis und Todeschatten“ Ausdruck verschafft. Sie stammen aus dem 8. Jahrhundert, werden also seit mehr als 1200 Jahren gesungen! Den meisten Christen sind sie unbekannt. Die O-Antiphonen beziehen sich durchgängig auf Textstellen aus dem Alten Testament, bestehen also fast ausschließlich aus Heiliger Schrift. Was sie im Unterschied zu anderen christlichen Aufnahmen der jüdischen Bibel auszeichnet ist das Fehlen der gängigen Entgegensetzung von Verheißung und Erfüllung, verteilt auf das Alte und das Neue Testament und gipfelnd in Christus, der Erfüllung aller Verheißungen. Vielmehr beten diese Anrufungen mit den Worten Israels inständig weiter um das Kommen Gottes in eine dunkle und todverfallene Welt.

Deshalb sind die alten Gebete in einem Projekt, das den jüdischen und den christlichen Glauben „in Beziehung“ setzen will, neu zu entdecken.[1]

Vielleicht können sie mit ihrer unstillbaren Sehnsucht nach Heil sogar eine Spur zu einer neuen Theologie des Weihnachtsfestes legen. Das Kommen des Erlösers „im Fleisch“ hat ja die Welt nicht in ein Paradies verwandelt sondern ihre Wunden in neuer Weise offen gelegt. Die Heimatlosigkeit der Schwangeren, die Armut der Hirten, die Lüge der Herrschenden, die Gefahr der Vernichtung und die Entbehrungen der Flucht machen die „heilige Familie“ zu einer Ikone zeitgenössischer Biografien. Der Not und Dunkelheit, die auch die Entstehungszeit der lateinischen Antiphonen geprägt hat, singen diese ihre aus der Bibel entnommene Hoffnung entgegen. Alle Strophen enden mit dem eindringlichen und sehnsüchtigen „Veni!“ – O komm!

So möchte ich im Folgenden dieses alte Vor-Weihnachtslied unter zwei Fragestellungen neu lesen: Was sagt es über eine weihnachtliche Spiritualität für heute? Und kann diese auch etwas über eine Beziehung christlicher Gläubiger zu Israel sagen?

Die erste Strophe ruft die Weisheit an (Weish 7,21; Spr 8,12-26) und erinnert damit an die Schöpfung: „O Weisheit, hervorgegangen aus dem Munde des Höchsten – die Welt umspannst Du von einem Ende zum andern“. Die zweite Strophe ruft den befreienden Exodus und die Gabe der Tora ins Gedächtnis: „O Adonai, Herr und Führer des Hauses Israel“, betet die Gemeinde und zitiert damit die Berufung des Mose in Exodus 6,3. Nur an dieser einen Stelle wird in der lateinischen Bibelübersetzung der Gottesname in der hebräischen Verhüllung seines nicht aussprechbaren Namens genannt: Adonai. „Im flammenden Dornbusch bist Du dem Mose erschienen und hast ihm auf dem Berg das Gesetz gegeben. O komm und befreie uns mit deinem starken Arm!“ Das erinnert an die Befreiung Israels in der Geschichte; die Betenden bitten jedoch um ein befreiendes Handeln Gottes in der Zukunft. Die Vollendung der Erlösung steht noch aus. Das gilt für die Christen und enthält eine implizite Israel-Theologie, wie Egbert Ballhorn formuliert: „weil auch wir auf Vollendung hoffen, stehen wir Seite an Seite mit Israel, beten wir mit Israel und mit den Worten Israels; nicht nur mit dem biblischen Israel, sondern auch mit dem heute existierenden.“ 


[1] Die zentrale Anregung verdanke ich dem Aufsatz von Egbert Ballhorn, Die O-Antiphonen. Israelgebet der Kirche, in: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 37, 1989, 9-34. (https://www.jstor.org/stable/24200651?seq=1)

„O Spross aus Isais Wurzel“ (vgl. Jes 11,10) ruft die dritte Strophe. Der Angerufene ist der Sohn Davids und der Messias. Die vierte Strophe wendet sich an den „Schlüssel Davids“ (vgl. Jes 22,22): „O komm und öffne den Kerker der Finsternis und die Fessel des Todes!“ Dieser Rettungsruf erklingt fast identisch noch einmal am Ende der fünften Strophe, die den „Morgenstern“ und „der Gerechtigkeit strahlende Sonne“ (Mal 3,20) als Rettung aus Finsternis und Todesschatten anruft. Hier hören wir die Klagen der Psalmen (Ps 22,4; 88,7), aber auch des leidenden Ijob (Ijob 10,21f). Vorweihnachtlich erklingt in vielen Kirchen das „Jauchzet, frohlocket, auf lasset die Klage …“ Doch kann man die Klage nicht ehrlich lassen, wenn sie nicht vorher erklungen ist. Und dazu brauchen die Christen die Psalmen, das Gebetbuch Israels.

„O König der Völker, ihre Erwartung und Sehnsucht“ (Jes 10,7; Hag 2,8). In der sechsten Strophe wird die Herrschaft Gottes über Israel und die Völker ausgesagt: Dann verknüpft der Text zum einzigen Mal alttestamentliche Bilder (Jes 28,16) mit einem neutestamentlichen Zitat: In Epheser 2,14 heißt es: „Denn er ist unser Friede. Er machte aus den beiden Teilen (Juden und Heiden) eins und riss die trennende Wand der Feindschaft in seinem Fleisch (d.h. in seinem Sterben) nieder.“ Die Feindschaft ist dabei nicht die zwischen Juden und Heiden oder gar zwischen Juden und Christen, sondern die Feindschaft zu Gott, in der die Heiden standen, als sie noch vom Bund der Verheißung ausgeschlossen waren. Durch das Handeln Gottes in Christus bekommen die Völker – die Christen – nun aber Anteil am Heil, das Gott seinem erwählen Volk Israel geschenkt hat. Das steht im Hintergrund, wenn der lateinische Text betet: „Eckstein, der du aus zweien eins machst.“ Die Antiphon ruft hier eine urchristliche Grundüberzeugung ins Gedächtnis: Das Heil ist keinesfalls von Israel auf die Völker übergegangen, sondern Israel bleibt im Heil, das nun jedoch auch die Völker empfangen, und zwar von Israel her. Deshalb heißt es lapidar im Johannesevangelium: „Denn das Heil kommt von den Juden“ (Joh 4,22).

 „O Immanuel“ – Gott mit uns (Vgl. Jes 7,14). Die letzte Strophe redet Christus endlich mit seinem weihnachtlichen Namen an. Der Text schließt mit der liturgischen Gottesanrede: „O komm, eile und schaffe uns Hilfe, du unser Herr und unser Gott“.

Warum sollte man diese alten Anrufungen heute wieder beten?
Sie erinnern heutige Beter und Beterinnen daran,

  • dass ihr christlicher Glaube sich auf den Glauben Israels bezieht, der sich in der jüdischen Bibel zeigt;
  • dass das „Neue“ am Neuen Testament darin besteht, dass die Völker in Christus Zugang zu den Verheißungen Israels erlangt haben.
  • Deshalb dürfen auch Christen und Christinnen sich in die Verheißungen hineingenommen fühlen, die dem Volk Israel gelten. Sie dürfen ihr „Altes Testament“ lesen.
  • Gegenüber einer zu selbstsicheren Rede von der „Erfüllung“ aller Verheißungen erinnern die Texte der Bibel Israels daran, dass auch die Christen unter einer ausstehenden Erwartung auf die Erfüllung aller biblischen Verheißungen stehen.
  • Diese erwarten Christen mit dem Volk Israel von Gott. Wie diese Erfüllung aussehen wird, bleibt sein Geheimnis.
  • Für Christen hat der sich offenbarende Gott einen Namen: Jesus Christus. Sein Kommen im Fleisch feiern sie an Weihnachten.
  • Das hindert sie nicht daran, ihrer ungestillten Sehnsucht, ihrer drängenden Erwartung, ihrer ausgespannten Hoffnung und ihrem inständigen Bitten um das Kommen des Herrn in unsere Welt weiterhin Ausdruck zu verleihen.
  • Die 1200 Jahre alten lateinischen O-Antiphonen laden dazu ein – und man könnte fast meinen, der alte Text möchte es so –, dass christliche Beter und Beterinnen das zusammen mit jüdischen tun: in der Weise der Beziehung, oder eben: „beziehungsweise“.

– Prof. Dr. Margareta Gruber OSF
Lehrstuhl für Exegese des Neuen Testaments und Biblische Theologie
Philosophisch-theologische Hochschule Vallendar


#beziehungsweise: jüdisch und christlich – näher als du denkst

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