Umkehren zum Leben beziehungsweise Antisemitismus ist Sünde

Umkehren zum Leben beziehungsweise Antisemitismus ist Sünde.


Eine christliche Stimme

Kurzfassung

„Der Antisemitismus hat …. seinen Sitz …. in einem bösen Herzen.“

Peter von der Osten-Sacken

Das vorangestellte Zitat eines der Großen im jüdisch-christlichen Dialog verweist darauf, dass es sich hier um eine theologisch begründete Reflexion zum Antisemitismus handelt. Es geht mithin nicht um die gesellschaftlich-politische Analyse des Antisemitismus, der in den letzten Jahren auch in Deutschland immer unverhohlener seine Fratze zeigt und Jüdinnen und Juden existentiell und damit die gesamte demokratische Kultur und Gesellschaft bedroht. Diesen Antisemitismus zu bekämpfen ist Aufgabe dieser Gesellschaft, und zwar nicht nur aus Verantwortung vor der Geschichte und aus Solidarität, sondern auch aus der Einsicht, dass da, wo er obsiegt, keine menschenwürdige Existenz mehr möglich ist.

Die anders fundierte Rede vom Antisemitismus unterscheidet sich nicht zuletzt dadurch, dass ihr die distanzierte abstrakte Redeform nur begrenzt möglich ist. Gewiss ist es durchführbar, den Antisemitismus als ein Phänomen der Kirchengeschichte zu beschreiben, das je unterschiedlich Theologie und Kirche beeinflusste, aber selbst in diesem Kontext kann nicht davon abgesehen werden, dass Sünde getan wird, es also Akteure der Sünde gibt. Wenn man vom Antisemitismus spricht, kann man von den Antisemiten nicht schweigen. Ihre Haltung und Tun müssen als Sünde benannt werden, weil sie eine Verneinung der Anderen leben, biblisch gesprochen: sie hassen. Sie können sich einreden, ihr Hass wäre beschränkt auf bestimmte Menschen, aber der Antisemitismus ist eine Sünde, die den Menschen zur Gänze erfasst. Es gibt keine guten Antisemiten. Dann noch zu meinen, man könne an den einen wahren Gott glauben, ist nicht einsichtiger als das Reden Kains.

– Univ.-Prof. Dr. Rainer Kampling, Geschäftsführender Direktor • Biblische Theologie/NT


Langfassung

Die einfachste Antwort auf die Frage, warum Antisemitismus Sünde ist, ist zweifelsohne die, dass er Hass ist. Damit wird eine Haltung in Wort und Tat beschrieben, in der das menschliche Gegenüber nicht mehr als Mensch wahrgenommen wird, sondern als Objekt einer durch Ablehnung und Feindseligkeit bestimmten Aktion und Emotion. Hass bzw. Antisemitismus bedarf des Menschen, dem er gegenübertritt, nicht als Mensch, sondern allein als Haftpunkt seiner eigenen Vorstellungen und negativen Gefühle. Hass beraubt die, denen er gilt, von vornherein der ihnen zukommenden Würde. Der Hass ist fundamental negativ und destruktiv. Gewiss gibt es insbesondere für die Opfer grundlegende existenzielle Unterschiede zwischen Worten und Taten des Antisemitismus. Die im gesellschaftlichen Diskurs bisweilen begegnende Unterscheidung zwischen ‚zivilisiertem‘ und gewaltsam-mörderischem Antisemitismus verkennt dessen Grundstruktur. Ihm ist wesenhaft eigen, dass er auf Zerstörung des Daseins derer zielt, die nach seinen Kriterien jüdisch sind.

Innerhalb eines ethischen Bezugsrahmens, der auf der biblischen Tradition beruht, wie es die Kirchen für sich in Anspruch nehmen, kann ein Reden von dieser Sünde nicht davon absehen, dass die Bibel davon weiß, dass schuldhaftes Vergehen zwischen Menschen immer auch die Beziehung zu Gott unmittelbar angreift. Nun liegt es in diesem Bezugsrahmen nahe, auf das Liebesgebot in beiden Teilen der Heiligen Schrift zu verweisen. Allerdings zeigen die Geschichte und die Welt, dass das Hören des Gebotes nicht immer das Tun zur Folge hat. Im Zusammenhang mit dem Antisemitismus kommt dem Verweis auf das Gesetz daher zunächst ein kritisches Moment der Offenlegung zu. Es erlaubt nämlich keine Entschuldigungen und Verharmlosungen. Man kann sich nicht so geben, als sei antisemitisches Reden und Tun etwas, das nicht die christliche Existenz anginge. Vielmehr ist es so, dass dessen zerstörerisches Potential in wesentlichem Maße eben diese schädigt. Man kann diesen klaren Sachverhalt mit dem Vers aus 1 Joh illustrieren: „Wer sagt, er sei im Licht, und hasst seinen Bruder, der ist noch in der Finsternis.“ (2,9) Der Hass ist ein entscheidendes Zeichen für die erschütterte Beziehung zu Gott und den Menschen. Dabei geht es im Hinblick auf den Einen nicht bloß um die Übertretung seines Gebotes, was folgenschwer genug ist, sondern auch die Infragestellung Gottes als Gott. Denn das Hassen eines Menschen missachtet die zuvorkommende Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen, die einem in der Begegnung mit den anderen Menschen zuteilwird. Der Hass verleugnet das Gute, das Gott der Schöpfung gegeben hat. Wenn dies womöglich unter der Lüge des religiösen Eifers geschieht, ist es zugleich Versuch der Entmachtung Gottes, da man glaubt, man könne ihn instrumentalisieren.

So sehr damit gleichermaßen die Dimension des Antisemitismus als Sünde beschrieben ist, so ist dort, wo man an den einzig wahren Gott glaubt, zu dem der Weg für Christ*innen durch Jesus eröffnet wurde, noch Anderes zu bedenken. Denn wo immer man die Worte spricht: „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde“, ist die Geschichte dessen, an den man glaubt, eingeschlossen. Und dieser Geschichte ist unlöslich die Berufung Israels als sein Volk, seinen „Augapfel“ (Sach 2,12), und die Liebe Gottes zu ihm eingeschrieben. Antisemitismus steht quer zu diesem Glauben, ist mithin Unglauben. Dieser Einsicht könnte man sich nur entledigen, indem man der irrigen Meinung anhinge, der erste Teil der christlichen Bibel sei irrelevant; dann stellte man sich freilich gleich außerhalb dessen, was christliche Kirchen seit 2000 Jahren glauben. Was an solchem Irrtum christlich sein soll, bleibt in der Finsternis.

Nun ist es nur allzu bekannt, dass dieser Glaubenssatz in der christlichen Geschichte umgedeutet oder ganz verleugnet wurde. Man hat Jüdinnen und Juden bestritten, dass sie das Volk der Erwählung sind, und für sich alleine die Barmherzigkeit Gottes reklamiert. Man hat sie gleichsam aus ihrer Heilsgeschichte vertrieben. Was an unendlichem Schrecken und Leid über die jüdischen Europäer gekommen ist, nimmt hier seinen Ursprung. Bisweilen findet sich als Apologie der Judenfeindlichkeit in den Kirchen die Erklärung, sie sei derart normal gewesen, dass niemandem wirklich bewusst gewesen sei, wie sehr man damit gegen die Gebote Gottes verstieß. Nicht aus apologetischen Gründen, sondern um zu zeigen, dass dieser Weg des Bösen kein zwangsläufiger war, ist es wichtig, daran zu erinnern, dass es zu allen Zeiten Menschen gab, und mögen es auch nur vereinzelte gewesen sein, die die Verworfenheit dieses Handelns von Christen als unchristlich klarstellten. Als in Zentraleuropa während der Pest Juden von ihren christlichen Nachbarn gequält und ermordet wurden, nahm Clemens VI. jüdische Flüchtlinge in den Kirchenstaat auf und erinnerte die, die sich christlich nannten, daran, Jesus und die, die sie verfolgten, seien gleicher Herkunft. Und neben den judenfeindlichen Tiraden von Martin Luther und Johannes Eck sollte deutlicher die Stimme von Andreas Osiander gehört werden, weil bei ihm das Evangelium bezeugt wird.

Wer gegenwärtigen Antisemitismus bekämpfen will, wird nicht umhinkönnen, sich im Sinne einer „Reinigung des Gedächtnisses“ (Johannes Paul II.) mit dieser Geschichte auseinanderzusetzen. Es genügt nicht, allein die Schrecken und Verheerungen zu beklagen, sondern man wird weiter fragen müssen, wie diese im Christentum entstandenen Vorstellungen, die ihren Niederschlag in kirchlicher Praxis und Lehre fanden, bis heute Wirkung zeigen. Der erste Schritt zur Umkehr ist es, mit der Schönrednerei und Weißwäscherei aufzuhören und sie als das zu benennen, was der Judenhass war und ist: Verleugnung Gottes und Dehumanisierung in Wort und Tat.

Und hiermit dehnt sich der binnenkirchliche Blick auf die Gesellschaften aus, in denen man lebt. Es kommt auch ihnen zugute, wenn man den Antisemitismus, unbeschadet wo, wie und bei wem er auftritt, beim Namen nennt und ihm entgegenwirkt. Wer in Zeiten, in denen Antisemiten in deutschen Parlamenten sitzen und die Zahl antisemitischer Straftaten ungebrochen ansteigt, immer noch meint, man könne sich damit arrangieren oder müsse versuchen, diesen Hass relativierend zu erklären, hat sich längst mit dem Bösen gemein gemacht. Eine Umkehr zum Leben kann und wird es mit und in dem Hass des Antisemitismus nicht geben.

– Univ.-Prof. Dr. Rainer Kampling, Geschäftsführender Direktor • Biblische Theologie/NT


#beziehungsweise: jüdisch und christlich – näher als du denkst

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