Jom Kippur beziehungsweise Buße und Abendmahl

Versöhnung feiern: Jom Kippur beziehungsweise Buße und Abendmahl.


Eine jüdische Stimme

Kurzfassung

Rosch HaSchanah und Jom Kippur gelten als die Hohen Feiertage des Judentums, denn an ihnen werden Fragen von Leben und Tod verhandelt. „Wer wird leben und wer wird sterben?“, fragt ein bekanntes Gebet, das zum jüdischen Neujahr und zum Versöhnungstag gesagt wird. Die dazwischenliegenden Zehn Tage der Umkehr werden als eine Zeit des Gerichts verstanden, in der Gott über unsere Fehler und Versäumnisse richtet und dementsprechend ein Urteil zu einer guten oder einer düsteren Zukunft über uns verhängt. Wir bemühen uns, diesen Richterspruch zu unseren Gunsten zu beeinflussen, indem wir selbstkritisch unser Leben betrachten, unsere Verfehlungen erkennen und uns ändern.

Doch es genügt nicht, zu Gott um Vergebung zu flehen. Unrecht und Verletzungen, die wir anderen Menschen zugefügt haben, müssen wir selbst in Ordnung bringen: Zu diesen Menschen hingehen, um Verzeihung bitten und auch Verzeihung gewähren, den Schaden wiedergutmachen, steht als religiöses Gebot nicht hinter Gebet und Fasten zurück. Erst dann können wir auf Versöhnung hoffen und einen Neuanfang mit Gott, mit unseren Nächsten und auch mit uns selbst wagen.

– Rabbinerin Dr.in Ulrike Offenberg


Langfassung

„Heilig sollt ihr sein, denn ich bin heilig, der Ewige, euer Gott“ (Lev 19, 2). Menschen sind in Gottes Ebenbild geschaffen und haben den Auftrag, dies in unserem Handeln durchscheinen zu lassen. Aber wie oft versagen wir in ethischer und in religiöser Hinsicht, diesen hohen Erwartungen gerecht zu werden! Wie kann uns dafür vergeben werden, wie können wir uns selbst vergeben, unserem Potential nicht gerecht zu werden? Wie kann es gelingen, trotz unseres wiederholten Verfehlens das Streben nicht aufzugeben? Die Hohen Feiertage sind eine emotionale Achterbahnfahrt zwischen Schuldeinsicht, Scham, Angst, Umkehr und Hoffen auf Vergebung.

Jom Kippur ist dabei nur das vorläufige Ende einer vierzigtägigen Reise, die im Monat Elul beginnt. Dann beginnt das Schofarblasen, dass dieser Periode ihren Klang verleiht: Der dunkle, archaische Ton eines Widderhorns, das jeden Morgen geblasen wird und daran erinnert, dass jetzt die Zeit der Seelenprüfung und Umkehr ist. Der Monat vor dem Neujahrsfest Rosch HaSchanah ist eine Zeit der Vorbereitung auf die Hohen Feiertage, also die Tage von Rosch HaSchanah bis Jom Kippur. Es werden spezielle Gebete, die „Slichot“, gesagt, mit denen wir Gott um Verzeihung für unsere Vergehen, Verfehlungen und Versäumnisse des vergangenen Jahres bitten. Bevor man eine Schuld bekennen kann, muss man sie erkennen, und so ist dieser Monat durch Rückschau und Introspektion gekennzeichnet. Mit Rosch HaSchanah beginnt ein neues Jahr, und kalendarische Umbrüche sind Anlass, sich zu befragen, wie man das zurückliegende Jahr verbracht hat und ob wirklich alles so gelungen war.

Zugleich werden die zehn Tage von Rosch HaSchanah bis Jom Kippur als eine Periode des Gerichts angesehen. Während der Charakter dieser beiden Feiertage in der Torah noch relativ undeutlich bleibt, hat die rabbinische Auslegung sie zu einer Klammer verbunden, die die Zehn Tage der Umkehr umspannt. Nach traditioneller Vorstellung hält Gott in dieser Zeit Gericht: Nicht allein Juden und Jüdinnen, sondern alle Geschöpfe der Welt ziehen zu Rosch HaSchanah vor Gott vorbei und werden einzeln auf ihr Verhalten, ihre Taten und Unterlassungen geprüft. Vor Gott liegen drei Bücher aufgeschlagen: Eines für die Gerechten, eines für die unverbesserlichen Übeltäter und eines für die Menschen, die sich irgendwo zwischen diesen beiden Polen befinden. Sogleich werden die vollkommen Gerechten zum Leben und die absolut Bösen zu Unheil und Tod eingeschrieben. Die Durchschnittlichen hingegen, zu denen wohl die meisten von uns gehören, bekommen noch einen Aufschub: Ihr Urteil wird erst zum Ausgang von Jom Kippur gefällt werden. Dazwischen liegen also die Zehn Tage der Umkehr, in denen wir uns durch Gebete und Verhaltensänderung darum bemühen, die Waagschale zu unseren Gunsten zu beeinflussen. Der zentrale Begriff dieser Zeit ist „Umkehr“ (hebr.: „Teschuwah“), was den Prozess der Erkenntnis der eigenen Fehler, die Einsicht, den Willen zur Veränderung und das tatsächliche Ablegen der alten Verhaltensmuster meint.

Jom Kippur ist der Versöhnungstag, und Versöhnung soll auf dreifache Weise bewirkt werden: a) zwischen Gott und mir, b) zwischen meinen Mitmenschen und mir, und c) zwischen mir und mir selbst. In der Mischnah (Joma 8:7) heißt es:

„Sünden des Menschen gegen Gott sühnt der Versöhnungstag. Sünden des Menschen gegen seinem Nächsten sühnt der Versöhnungstag nicht, bis man dessen Verzeihung erlangt hat.“

In den Zehn Tagen der Umkehr nimmt zwar die spirituelle Atmosphäre an Intensität zu, aber Gebete können nicht den Schaden heilen, der in zwischenmenschlichen Beziehungen entstanden ist. Es ist nicht möglich, diesen schweren Schritt an Gott zu delegieren. Jede/r ist aufgefordert, selbst zu den Menschen zu gehen, denen man Kränkungen zugefügt hatte, und sich um Versöhnung zu bemühen. Diese muss erfolgt sein, bevor man am Jom Kippur vor Gott treten und von dort Vergebung erhoffen kann.

Während der Hohen Feiertage ist Weiß die dominierende Farbe in der Synagoge: Der Torahvorhang, die Torahmäntel und die Decke auf dem Lesetisch sind weiß, und am Kippur kleiden sich auch die Menschen ganz in weiß, um die Hoffnung aus Jes 1, 18 zu auszudrücken: „Wenn eure Sünden auch karmesinrot sind, weiß wie Schnee sollen sie werden“. In der Torah wird Jom Kippur als ein Tag der Kasteiung beschrieben (Lev 23, 27), was vor allem als ein strenger Fastentag verstanden wird. Dazu gehört der Verzicht auf jegliches Essen und Trinken (außer wenn das gesundheitlich geboten ist), auf Duschen, Kosmetik und sexuelle Beziehungen. Nach einer abschließenden Mahlzeit vor Anbruch des Jom Kippur gehen viele in die Synagoge, wo das berühmte Kol-Nidrej-Gebet die Liturgie des Versöhnungstages eröffnet. Es ist ein aramäischer Text, der von der Macht der Worte handelt und uns vor Gott von unbedacht gegebenen Versprechungen befreien soll. Mit seiner alten, ergreifenden Melodie beginnt das liturgische Drama dieses Tages, das die Anwesenden durch viele Höhen und Tiefen führt, und erst am folgenden Abend mit der Hawdalah-Zeremonie zum Ausgang des Jom Kippur eine Auflösung erfährt.

Fünf Mal wird das Hauptgebet der Amidah gesagt, das während der Zehn Tage der Umkehr besondere Einschübe erhält, die flehentlich darum bitten, zu einem Jahr des guten Lebens eingeschrieben zu werden. Daran schließt sich jeweils ein Schuldbekenntnis („Widui“), das die Gemeinde gemeinsam spricht. Auch wenn jede/r Verantwortung für die eigenen Verfehlungen übernehmen muss, fällt es doch leichter, diese gemeinschaftlich zu bekennen und daraus Kraft für die Schuldeinsicht zu beziehen. Ein Höhepunkt ist für viele die Lesung des Jonah-Buches im Nachmittagsgottesdienst, das die Themen der Hohen Feiertage aufnimmt. Der Unwille des Propheten Jonah, den ihm fernstehenden Menschen von Niniveh Umkehr zu predigen und sein Beharren auf ihrer Strafwürdigkeit bringt die schwierige Balance von Gerechtigkeit und Erbarmen zur Sprache. Ohne Gerechtigkeit, also ohne Verantwortung für die eigenen Taten und die Sanktionierung von Vergehen, würde die Welt in Regellosigkeit und Tyrannei versinken. Ohne Erbarmen und Vergebung hingegen gäbe es keine Chance zu Neuanfang und Veränderung.

Manche Gemeinden ziehen die Gebete vom Morgen bis zum Abend hin, so dass die Beter*innen den ganzen Tag in der Synagoge verbringen. Andere machen am frühen Nachmittag eine Pause, damit sich alle Akteure etwas ausruhen können oder bieten in dieser Zeit Schiurim (Lernstunden) zu Texten des Versöhnungstages an. Das Schlussgebet (Ne’ilah) gewinnt noch einmal an Intensität, denn nach traditioneller Vorstellung stehen die Tore des Himmels kurz vor der Schließung und nun ist die letzte Gelegenheit, flehentliche Bitten vorzutragen. Dieses Gebet endet nach Sonnenuntergang mit dem Schema Jisrael, der siebenmaligen Bekräftigung „Der Ewige ist Gott“ und einem langen Schofarton. Daran schließt sich die Hawdalah-Zeremonie zur Verabschiedung vom „Schabbat der Schabbate“ mit Wein, geflochtener Kerze und Gewürzen. Jom Kippur endet so mit einer fröhlichen Note, denn wir vertrauen darauf, dass Gott mit uns Erbarmen hat, weil auch wir den Versöhnungstag ernst genommen haben. Und auch das Fasten endet mit einem gemeinsamen „Anbeißen“ mit leichten Speisen, Obst und Getränken. Zum Abschluss wünschen sich alle „Chatimah Towah“, die „Besiegelung eines guten Urteils“.

– Rabbinerin Dr.in Ulrike Offenberg  


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