Jom Kippur beziehungsweise Buße und Abendmahl

Versöhnung feiern: Jom Kippur beziehungsweise Buße und Abendmahl.


Eine christliche Stimme

Kurzfassung

Das Abendmahl ist ein Fest der Offenbarung Gottes. Rituell verdichtet erscheinen die Ursprungsmomente christlichen Weltverständnisses: Tod und Auferstehung Jesu, Schöpfung und Erlösung. Bruchstückhaft nur lässt sich das zur Sprache bringen. Denn das „Wort im Anfang“, der schöpferisch sprechende Gott, der in Christus Mensch wurde, starb am Kreuz. Mit ihm verschied die Verständlichkeit der Welt. Aus diesem Abgrund des Todes aber kommt uns Gott entgegen, stiftet neuen Sinn. Im Abendmahl geschieht Auferstehung – als Hoffnung, Wahrheit und Leben jenseits des Sagbaren.

Das Abendmahl holt das Christusereignis in die Gegenwart. Christus hat sein Liebesopfer einmal vollzogen – damit ist alles für alle Zeit gesagt. Nunmehr verwirklicht sich christliche Religion im Glauben an das, was geschehen ist: Für dich gestorben. Abendmahl heißt: Sich in dieses „Für dich“ zu fügen. Dies geschieht in der Gemeinschaft derer, die sich versammeln zum Essen und Trinken. Sie feiern mit Christus bereits jetzt in der neuen Welt sein Festmahl. Gegenwart und Zukunft Gottes fallen in eins.

Das Abendmahl steht für eine lebenslange Umkehr. Es ist eine Wegzehrung. Der Mensch, der sich in Schuld und Entfremdung selbst verloren hat, erfährt Vergebung und Neuanfang. Im Abendmahl schmecken wir das süß werdende Brot auf der Zunge. Im Einfachsten sind wir gehalten – als Wesen in der Schwebe, gefallen und erhoben von Gott in einem Augenblick.

– Dr. Christian Lehnert


Langfassung

Das Abendmahl ist ein Fest der Offenbarung Gottes. Rituell verdichtet erscheinen die Ursprungsmomente christlichen Weltverständnisses: Tod und Auferstehung Jesu, Schöpfung und Erlösung. So gesehen ist das Abendmahl – wie jeder religiöse Ritus – unvergleichlich. Es gibt keinen äußeren neutralen Punkt, von dem her das Geschehen zu fassen wäre.

Bevor ich darauf schaue, was sich zeigt, wenn wir das Abendmahl mit dem Jom Kippur, dem Versöhnungstag, in eine Beziehung stellen, will ich als Glaubender die eigene christliche Ritualgestalt betreten und dabei notwendig unabgeschlossene und brüchige Bedeutungen freilegen. Denn sprachliche und theologische Sicherheit wird es hier nicht geben, insofern wir es mit dem alle Sprache übersteigenden Ereignis Gottes, seiner realen Präsenz im Mahl (oder mit einer verwandelnden Zeichenhaftigkeit) zu tun haben. Das fällt mir zuerst auf: Das Abendmahl vergegenwärtigt den Tod des Logos am Kreuz. Das „Wort im Anfang“, das in Jesus Christus Mensch wurde und „Gott ist“, starb, opferte sich selbst – und mit ihm verschied die Sprache, das schöpferische Sprachgeschehen Gottes, es versickerte die Verständlichkeit der Welt. Als der Logos tot am Kreuz hing, klaffte ein beängstigender Abgrund in allem Denken und Glauben auf. Der Mensch, der dieses Selbstopfer Gottes rituell in einem Mahl feiert, opfert seine eigene Behausung in den Dingen und ihren Namen, opfert seinen sicheren Ort in der Welt und sein Selbstverständnis. Aus diesem Verlust jedoch kommt ihm Gott entgegen, stiftet neuen Sinn, jenseits allen Sinns, als Gnade des Glaubens. Im Abendmahl geschieht Auferstehung – als Hoffnung und Wahrheit und Leben jenseits des Menschenmöglichen und Sagbaren.

Damit ist, zweitens, eine Spannung gegeben: Das Abendmahl wiederholt etwas im Horizont des Menschen, was unwiederholbar ist. Es holt das Christusereignis als solches in die Gegenwart. Christus übernahm das Amt des Hohenpriesters (Hebräer 10,14), indem er sich selbst hingab in den Tod. Reinigung für immer und ewig geschieht (Hebräer 9,4), wahre Katharsis. Auf so einer Grundlage ist eigentlich keine fortlaufend wiederholte gottesdienstliche Praxis denkbar, auch keine Liturgie und kein Priestertum. Christus hat sein Liebesopfer einmal vollzogen – damit ist alles für alle Zeit gesagt. Nunmehr verwirklicht sich christliche Religion im Glauben an das, was geschehen ist. Glaube meint dabei eine persönliche (sakramentale) Annahme des Zuspruchs: Für dich gestorben. Abendmahl heißt: Sich in dieses „Für dich“zu fügen.

Dies geschieht, drittens, im Horizont einer Gemeinschaft, die durch das Abendmahl geformt wird. Hier wird „Kirche“ in besonderer Weise sichtbar – als Gemeinschaft der „Herausgerufenen“, die sich versammeln in ganz alltäglichen Vollzügen, im gemeinsamen Essen und Trinken. Aber schon wieder verwirren sich die Ebenen: Wer sind die Versammelten? Diejenigen, die sie werden sollen? Es sind die geheilten Menschen, die Versöhnten, die einst mit Christus in der neuen Welt zu Tisch sitzen werden –  doch stehen sie schon jetzt hier am Altar. Sie sind es, und sie sind es noch nicht. Wer oder was Christinnen und Christen eigentlich sind, steht ihnen nicht wie ein „Selbstbild“ zur Verfügung: Sie essen und trinken zu einem Festmahl in einer Welt, die aussteht. Sie feiern die Erlösung der ganzen Schöpfung. Das „Reich Gottes“, wie es Jesus sagt, ist bereits da – und es wird doch ersehnt. 

So verwirklicht sich, viertens, auch das Abendmahl nicht in einem irgendwie benennbaren Nutzen oder Zweck. Es dient nicht zu dem oder dem – es ist eine Verwandlung, und diese geschieht in einer lebenslangen Anverwandlung. Imitatio christi nannten das die Alten, ein Ähnlichwerden mit Christus. Das Abendmahl wird erfahren in einem Werden, ist Wegzehrung für ein unentwegtes Suchen,  unterwegs auf etwas hin, was Gläubige nur zeichenhaft, in Brot und Wein, als Wink und Hinweis vor sich haben – und es ist doch unmittelbare Gottesnähe, ihr Lebensgrund. Sie folgen Christus nach – und das geschieht in lebenslanger Umkehr.

Hier nun taucht ein fünfter Aspekt auf, der vor allem in lutherisch geprägten Kirchen eine herausgehobene Rolle spielt und in Beziehung zum Jom Kippur besonders angestrahlt wird: Abendmahl ist Vergebung. Es bringt eine grundsätzliche Situation des Menschen vor Gott zur Erscheinung, kurz gesagt: sein Fehlen. Wenn der Mensch vor Gott tritt, dann ist er in höchster Gefahr. Mittellos ist sein Dasein, der Sprache entkleidet, des Eigenen entleert, wenn nur der Hauch einer Gottespräsenz die menschliche Wirklichkeit streift. „Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen; denn ich habe den König, den Herrn Zebaoth, gesehen mit meinen Augen.“ (Jesaja 6,5)  

Fehlen – ein Verb mit zwei Grundbedeutungen: des Irrens und des Mangels.  Jemand fehlt, heißt es in älterem Deutsch – und das kann heißen: Er begeht Fehler, Verfehlungen; diese können sich verketten zu einer fatalen Logik des falschen Lebens. In der Entfremdung, im verfehlten Leben fehlt der Mensch dann auch im Sinne einer Abwesenheit – sein Menschsein, sein eigentliches Wesen ist ihm entglitten. In seinen Fehlern fehlt er, fehlt seine Wahrheit. Wer bin ich wirklich? Wer soll ich sein? Mit diesen Fragen schaut der Mensch auf, wenn er Brot und Wein auf dem Altar sieht. Abendmahl und Buße sind miteinander verwoben.

Darin leuchtet eine Spannung auf, die auch den jüdischen Festkreis um den Jom Kippur prägt: Die „Umkehr“ (Teschuwah), die Buße, die der Mensch vollzieht, ist nie ausreichend. Wir können, wenn wir stark sind, dort, wo wir an anderen schuldig geworden sind, um Vergebung bitten. (Das geschieht in der Abendmahlsliturgie zeichenhaft im vorbereitenden Friedengruß.) Wir können uns besinnen und im Angesicht Gottes unser Leben befragen. Aber wir werden nicht dahin gelangen, uns wahrhaft über uns selbst Rechenschaft zu geben – denn dazu fehlt uns der Ort, der archimedische Punkt. Gerade dort, wo wir meinen Gutes zu tun und religiös zu sein, fehlen wir oft am schmerzlichsten. So ist die Vergebung von Gott her etwas radikal Größeres, Umfassenderes, als wir Menschen wollen und erstreben können. Sie ist eine Heilung, die wir nicht erwirken können, sondern nur empfangen. Versöhnung geschieht von Gott her, über einen Abstand, der so groß ist, dass wir an uns und unseren Fähigkeiten verzweifeln müssten – wäre da nicht Gott, der uns vergibt, im Abendmahl wie in der Buße. Beiden ist ein Gefälle zu eigen, das einer Senkrechten gleicht. Uns wird zugesprochen, wer wir eigentlich sind. Versöhnung geschieht nicht allein zwischen mir und Gott, mir und meinem Mitmenschen, sondern auch mit mir selbst, der ich von Gott geschaffen wurde und mich immer wieder verliere. Am Jom Kippur ertönt der archaisch verstörende, tröstende Ton des Schofars. Im Abendmahl schmecken wir das süß werdende Brot auf der Zunge. Im Einfachsten sind wir gehalten – als Wesen in der Schwebe, gefallen und erhoben von Gott in einem Augenblick.

– Dr. Christian Lehnert


#beziehungsweise: jüdisch und christlich – näher als du denkst

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