Pessach beziehungsweise Ostern

Frei von Sklaverei und Tod: Pessach beziehungsweise Ostern.


Eine christliche Stimme

Kurzfassung

Die Beziehung zwischen Pessach und Ostern lädt zum Nachdenken über die Beziehung von Judentum und Christentum ein. Die beiden Feste finden ungefähr zur selben Zeit (wenn auch nicht am selben Tag) statt. Sie thematisieren Befreiung.

Dabei ist es interessant, wie wenig dem Judentum und Christentum gemeinsame Themen in den Gottesdiensten vorkommen. Die Kerntexte der Synagogenliturgie (Ex 12,21– 51; Jos 3,5–7; 5,2–6,1.27) und der Haggada (Jos 24,2–4; Dtn 6,21; 26,5–8) spielen keine Rolle zu Ostern.

Darin zeigt sich, dass die Feiern der österlichen Tage einer anderen Erzählung folgen als das biblische und das spätere jüdische Pessach. Sie bilden die im Neuen Testament erzählte Geschichte vom Einzug in Jerusalem (Palmsonntag) zum letzten Abendmahl, zur Fußwaschung und dem Gebet am Ölberg (Gründonnerstag), zu Leiden, Tod und Begräbnis (Karfreitag) und schließlich zur Auferstehung Jesu (Karsamstag und Ostersonntag) ab. Die christliche Gemeinde erlebt die letzten Tage Jesu – nicht den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten.

– Prof. Dr. Clemens Leonhard


Langfassung

Die Beziehung zwischen Pesach und Ostern lädt zum Nachdenken über die Beziehung von Judentum und Christentum ein. Auf den ersten Blick wäre anzunehmen, dass die Gottesdienste zu den beiden Festen im Christentum (im Folgenden aus einer katholischen Perspektive betrachtet) und im Judentum sehr viel gemeinsam haben. Sie finden ungefähr zur selben Zeit (wenn auch nicht am selben Tag) statt. Sie thematisieren Befreiungen. Auf den zweiten Blick ist interessant, wie wenig dem Judentum und Christentum gemeinsame Themen in den Gottesdiensten vorkommen. Die, die zur Sprache kommen, stehen in einem christlichen, den jüdischen Vorstellungen über ihre Bedeutung widersprechenden Rahmen.

Allgemeine Vorstellungen von „Befreiung“ finden sich in Gottesdiensten. Die Kerntexte der Synagogenliturgie (Ex 12,21– 51; Jos 3,5–7; 5,2–6,1.27) und der Haggada (Jos 24,2–4; Dtn 6,21; 26,5–8) spielen keine Rolle zu Ostern. Die biblischen Anweisungen zum ersten Pesach als Feier eines Mahls in den Häusern und die Erzählung von der zehnten Plage, die über die ägyptischen Erstgeborenen kommt (Ex 12), galten für christliche (männliche) Bibelausleger der Antike als Basistext für das christliche Fest. Antike Christen und (wahrscheinlich) Christinnen konnten viele der Texte des Alten Testaments aber nur akzeptieren, indem sie sie als Vorausdeutungen auf Jesus verstanden. So wurde das Pesachtier in Anweisung und Erzählung zur Feier des ersten Pesach in Ägypten (Ex 12) im Johannesevangelium als Hinweis auf Jesus gedeutet: „Als sie aber zu Jesus kamen und sahen, dass er schon tot war, zerschlugen sie ihm die Beine nicht … das ist geschehen, damit sich das Schriftwort erfüllte: Man soll an ihm kein Gebein zerbrechen“ (Jo 19,31: Ex 12,46). Der Text wurde daher zunächst am Karfreitag gelesen. Heute haben sich die Wahrnehmung des Judentums, der hebräischen Bibel und die Methoden der Auslegung geändert. Wir fangen mit dieser Art christlicher Textverknüpfungen nichts mehr an. Ex 12 ist daher wegen der Eucharistie, für deren Anfang und Vorbild sich Matthäus (26,17); Markus (14,12) und Lukas (22,7) auf das letzte Abendmahl Jesu als Pesach beziehen, auf den Gründonnerstag verschoben. Dort hinterlässt vermutlich die Liturgie der Fußwaschung, das Abräumen des Altars und ein offenes Ende des Gottesdienstes in die Stille der Erinnerung an ein nächtliches Gebet Jesu am Ölberg den tieferen Eindruck bei den (katholischen) Feiernden. Die Lesung aus Ex 12,1–8.11–14 hat mit den liturgischen Handlungen und Gefühlen nichts zu tun und bleibt im Hintergrund.

Darin zeigt sich, dass die Feiern der österlichen Tage einer anderen Erzählung folgen als das biblische und das spätere jüdische Pesach. Sie bilden die im Neuen Testament erzählte Geschichte vom Einzug in Jerusalem (Palmsonntag) zum letzten Abendmahl, zur Fußwaschung und dem Gebet am Ölberg (Gründonnerstag), zu Leiden, Tod und Begräbnis (Karfreitag) und schließlich zur Auferstehung Jesu (Karsamstag und Ostersonntag) ab. Bei den Kirchen des christlichen Ostens kommt mit der Feier der Auferweckung des Lazarus am Samstag vor dem Palmsonntag noch ein Gedächtniselement dazu. Wer sich auf die Karwoche nach diesen Gottesdiensten zusammen mit weiteren Bräuchen (Prozessionen und Elemente der Tagzeitenliturgie am Karfreitag oder dem Besuchen von Heiligen Gräbern in den Kirchen einer größeren Stadt am Karsamstagvormittag) einlässt, erlebt die letzten Tage Jesu – nicht den Auszug des Volkes Israel aus Ägypten.

Theologische Bedeutungen von Ostern lassen sich aus den biblischen Texten der Gottesdienste, zum Beispiel aus der Liste der Lesungen (aus dem fünften Jahrhundert) der Osternacht, gewinnen. Die Reihe von ehemals zwölf Lesungen begann mit Genesis 1–3. Sie endete nicht wie heute nach der ersten Schöpfungserzählung (Gen 2,2), sondern eröffnete die Feier mit der Feststellung, dass die Schöpfung der Welt (Gen 1 und 2) zwar „sehr gut“ war. Im ersten Sündenfall (und allen folgenden Sündenfällen) wurde die gute Schöpfung jedoch durch die Menschen zerstört und die Menschen aus dem Paradies vertrieben (Gen 3,24). Es geht um die Erklärung dafür, warum angesichts der guten Schöpfung Jesus überhaupt kommen musste, warum überhaupt Ostern zu feiern ist. In manchen christlichen Kirchen wird der spätantike Text des Exsultet („Frohlocket, ihr Chöre der Engel …“) gesungen. Der Grund des Feierns ist, dass Christus Genesis 3,24 rückgängig gemacht hat: O glückliche Schuld, welch großen Erlöser hast du gefunden! Die nächtliche Liturgie führt durch Texte, die zur Feier der Auferstehung Jesu passende Details oder traditionell mit Ostern verbundene Bibeltexte (unter anderem Exodus 14,15–15,1) enthält. Schon zum Ende der Antike wurde der Text der ersten Lesung gekürzt. Damit war die Erzählung des Sündenfalls gestrichen, sodass es heute um Licht und die Erschaffung der Welt geht.

Trotz der großen Entfernung von jüdischen Themen blieb zu Ostern in der katholischen Kirche mit der Karfreitagsfürbitte „für die Juden“ über Jahrhunderte der am ausdrücklichsten antijüdische Text der Liturgie stecken: „Lasset uns auch beten für die ungläubigen Juden: Gott, unser Herr, möge den Schleier von ihrem Herzen wegnehmen, auf dass auch sie unsern Herrn Jesus Christus erkennen.“ Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde der Text in sein Gegenteil gewendet:Lasst uns auch beten für die Juden, zu denen Gott unser Herr, zuerst gesprochen hat: Er bewahre sie in der Treue zu seinem Bund und in der Liebe zu seinem Namen, damit sie das Ziel erreichen, zu dem sein Ratschluss sie führen will.Am Karfreitag betet die katholische jetzt Kirche darum, dass jüdische Menschen jüdisch bleiben mögen. Das können jüdische Menschen zwar als übergriffig verstehen. Aus einer katholischen Innenperspektive handelt es sich aber um einen Fortschritt, weil damit feierlich und regelmäßig jeder Form von Judenmission eine Absage erteilt wird.

Ehemals religiöse oder unreligiöse Feste wie Weihnachten, Oktoberfest, Ostereiersuchen oder Osterfeueranzünden, Valentinstag und Halloween kann und darf jeder Mensch nach eigenen Vorstellungen mit oder ohne Bäume, Geschenke, Eier, Verwandtenbesuche, Bier, Trachten, Blumen oder Kürbisse halten oder ignorieren. Etwaige Unterschiede zwischen Originalen und Kopien sind aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. Bei einer von Christinnen und Christen gehaltenen Imitation von Pesach ist das anders. Gerade wer sich für das Judentum begeistert, kann im Fall von Pesach Original und Kopie gut unterscheiden und weiß, dass Kopieren hochgradig unerwünscht ist. Das Argument, man wolle durch eine Imitation der Feier des Seder und des Lesens der Haggada nicht das Judentum nachahmen, sondern feiern, wie Jesus es getan hat, hilft nichts. Den Text der Haggada und den Seder in seiner (mittelalterlichen und) heutigen Form kann Jesus noch nicht gekannt haben.

Von jüdischen und christlichen Menschen gemeinsam gestaltete und verantwortete Pesach-Oster-Feiern mag es experimentell geben. Eine Tilgung der beiden Traditionen und deren Ersatz durch etwas Neues wünscht sich wahrscheinlich niemand. Die Liturgie ist dennoch neben allen anderen Gelegenheiten eine, wo christlicherseits Achtung und Wertschätzung gegenüber dem Judentum eine Selbstverständlichkeit sein muss. Für gemeinsames Feiern, alle Arten von Kooperation und dem Fördern von Verständnis aus Sympathie und Interesse ist außerhalb der christlichen Liturgie viel mehr Platz als in ihr.

– Prof. Dr. Clemens Leonhard


#beziehungsweise: jüdisch und christlich – näher als du denkst

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