Schawuot beziehungsweise Pfingsten

Spirit, der bewegt: Schawuot beziehungsweise Pfingsten.


Eine christliche Stimme

Kurzfassung

Schawuot feiert den lebensstiftenden Geist der Zehn Gebote. An Pfingsten bewegt die Geistkraft Gottes die Mutlosen. Orientierung und Inspiration: Gestalten und mutig voranschreiten

Die Hauptfeste Israels sind ursprünglich im natürlichen Jahreszyklus des Landes verankert und markieren mit dem Dank für die Gaben der Erde die unterschiedlichen Jahreszeiten (vgl. Dtn 26,1-11). Schawuot, das sieben Wochen nach Pessach begangen wird, feiert dabei den Abschluss der Getreideernte. Alle Feste wurden jedoch im Lauf der Geschichte mit bedeutenden Ereignissen aus der Bibel theologisch hinterlegt. An Schawuot wird der Gabe der Tora am Gottesberg gedacht.

Da die göttliche Weisung in ihrem Wortlaut als kanonischer Text nicht verändert werden darf, die ethischen und kultischen Gebote und Verbote jedoch der Adaption in neue Zeiten bedürfen, braucht es zur rechten Auslegung der Mose-Tora göttliche Inspiration, die Gabe des Geistes. Die Geistbegabung an alle Menschen (vgl. Joël 3 vgl. Apg 2) schafft unmittelbaren Zugang zu Gott und seiner Offenbarung und bewirkt, dass alle im Gottesvolk die gesamte Tora begreifen und befolgen können (vgl. Ez 36,26f.). Die neutestamentliche Rezeption im Pfingstereignis aktualisiert diesen universalistischen Zugang und macht die christliche Botschaft für Menschen aus allen Völkern verständlich.

– Irmtraud Fischer


Langfassung

Die Hauptfeste Israels sind ursprünglich im natürlichen Jahreszyklus des Landes verankert und markieren mit dem Dank für die Gaben der Erde die unterschiedlichen Jahreszeiten (vgl. Dtn 26,1-11). Schawuot, das sieben Wochen nach Pessach begangen wird und ein Wallfahrtsfest ist (Dtn 16,9-12), feiert den Abschluss des gesamten Kornschnitts. Da die unterschiedlichen Getreidesorten früher oder später reifen, zieht sich dieser in Eretz Israel vom Frühling (Pessach) bis zum Frühsommer (Schawuot).

Das Christentum hat diese Kalendereinteilung, die vom ersten Frühlingsmond bestimmt wird, in seiner Feststruktur übernommen, wenngleich die Zeiten der landwirtschaftlichen Ernte in der missionarisch sich in anderen Weltgegenden ausbreitenden jungen Religion nicht mehr konformgingen und damit vernachlässigt wurden. In mitteleuropäischen Regionen wird mit dem späten Abschluss der Ernte im Oktober ein Erntedankfest gefeiert. Die Hauptfeste werden damit nicht in Verbindung gebracht, sie sind ausschließlich christologisch geprägt.

Aber auch alle Hauptfeste des Judentums wurden im Lauf der Geschichte mit heilsgeschichtlichen Ereignissen aus der Bibel hinterlegt, sodass die landwirtschaftlichen Feste eine zusätzliche theologische Tiefendimension bekamen. An Schawuot wird der Gabe der Tora am Gottesberg gedacht. Die Festrolle zu diesem Fest ist das Buch Rut, das von Anfang bis zum Ende der Getreideernte in Betlehem spielt (Rut 1,22; 2,23). Dieses Buch erzählt eindrücklich vom Schicksal zweier verarmter verwitweter Frauen, die sich nur durch Nachlese bei der Getreideernte am Leben halten können und die schließlich die Judagenealogie bis David fortführen (vgl. Rut 4,11-17.18-22). Auch wenn das Buch von vielen als „Idylle“ empfunden wurde, stellt die Rutgeschichte eine literarisch höchst kunstvoll aufgebaute Erzählung dar, die gezielt Schriftauslegung zugunsten von Frauen betreibt. So vertritt sie etwa mit einem ihrer Leitmotive, der sogenannten Schwagerehe, die Anschauung, dass nicht (wie Dtn 25,5-10 es vertritt) die toten Männer die Begünstigten dieser verwandtschaftlichen Solidaritätspflicht sein sollten, sondern die lebenden Frauen, und stellt Rut in 2,11 mit Abraham (Gen 12,1-4) und Rebekka (Gen 24,58-61 in eine Reihe, die beide bereit waren, Vater und Mutter sowie ihr Herkunftsland zu verlassen, um in ein Land zu gehen, das sie zuvor nicht kannten (viele weitere Beispiele siehe: I. Fischer, Rut, HThK, Freiburg 2005). Wenn ausgerechnet ein biblisches Buch, das gezielt die Tora aktualisiert, um die ḥäsäd, die Zuwendung Gottes zu den Menschen deutlich werden zu lassen, als Festrolle zur Gabe der Tora gewählt wurde, zeugt dies von höchster Sensibilität dafür, dass Gottes Wort in jeder Generation neu gelebt und kreativ angewendet werden muss.

Da die göttliche Weisung in ihrem Wortlaut als kanonischer Text nicht verändert werden darf, die ethischen und kultischen Gebote und Verbote jedoch der Adaption in neue Zeiten bedürfen, braucht es zur rechten Auslegung der Mose-Tora göttliche Inspiration, die durch die Gabe des Geistes gewährleistet wird. Die Geistbegabung schafft unmittelbaren Zugang zu Gott und seiner Offenbarung und bewirkt, dass alle im Gottesvolk die gesamte Tora begreifen und befolgen können:

„Ich gebe euch ein neues Herz und einen neuen Geist gebe ich in euer Inneres. Ich beseitige das Herz von Stein aus eurem Fleisch und gebe euch ein Herz von Fleisch. Ich gebe meinen Geist in euer Inneres und bewirke, dass ihr meinen Gesetzen folgt und auf meine Rechtsentscheide achtet und sie erfüllt“ (vgl. Ez 36,26f.).

Der Geist und das Gesetz widersprechen einander also keinesfalls – wie in christlichen Polemiken gegen das Judentum oft behauptet. Im Gegenteil, der Geist macht das Gesetz lebbar, er leitet zum Gestalten und zur kreativen Aktualisierung an.

Der Schlüsseltext des christlichen Festes Pfingsten entstammt ebenfalls aus einer Prophetenschrift: Joël 3 ist der einzige Text der Hebräischen Bibel, der fast vollständig und nahezu  unverändert im Neuen Testament, in Apostelgeschichte 2,17-21, zitiert wird. Es ist eine endzeitliche Vision, die die Gabe des Geistes für „alles Fleisch“, also alle Lebendigen verheißt, die aber nur in Israel die Fähigkeit zur Prophetie bewirkt: „Eure Söhne und eure Töchter werden prophetisch reden, eure Alten werden Träume haben und eure Jungen haben Visionen.“ Israel wird in diesem prophetischen Text zum Propheten für die Völker, die aufgrund der Geistbegabung fähig sind, das Gotteswort zu hören und zu verstehen. Wenn die Predigt des Petrus zu Schawuot diesen Text auf die soeben erfolgte Geistsendung über die Jerusalemer Urgemeinde am Pfingsttag appliziert und damit das Wort von Jesus als Christus verkündet, dann rezipiert und aktualisiert er einen biblischen Text. Dies ist in der Hebräischen Bibel ein ganz normaler Vorgang und muss keinesfalls mit einer Enteignungstheologie verbunden sein. Man denke hier an das bekannteste Beispiel, an den Auszug aus Ägypten, der von Deuterojesaja aktualisiert wird und dem ein weiterer, neuer Exodus aus dem Exil als neue Heilstat Gottes hinzugefügt wird. Seitdem wird der Exodus aus vielen und vielfältigen Notsituationen des Volkes immer wieder erwartet, der biblische Text ins jeweilige Hier und Heute geholt.

Wenn mit dem Pfingsttag und seiner Geistsendung die Botschaft der christlichen Gemeinschaft für Menschen aus allen Nationen und Sprachen verständlich wird, wird auch die universalistische Konzeption des Joël-Textes rezipiert: Die geistbegabten Christusgläubigen werden prophetisch begabt, sodass alle Menschen sie verstehen, wenn sie von neuen Großtaten Gottes reden (vgl. Apg 2,11).

Pfingsten hat also eine sehr enge Beziehung zu Schawuot und wenn dialogbereite Menschen aus beiden Religionen diese Feste feiern, so schließen sie einander nicht aus, sondern bereichern einander: Das Christentum, weil sein Messias und sein Reichtum insgesamt aus der Tradition des Judentums kommen, das Judentum, weil es mit Freude sehen kann, dass sein Gott vielfältige Heilstaten an den Völkern wirkt. Wenn es nicht um Enteignungstheologie geht, die dem Judentum seine eigenen Texte wegzunehmen trachtet und nur mehr ein christliches Verständnis gelten lässt, wird die jüdische Heilige Schrift durch die christliche Rezeption nicht geschmälert, sondern sogar noch bedeutsamer. So bekennt etwa Ps 22,4-6 die Heiligkeit Gottes, der über dem Lobpreis Israels thront. Mit jedem Bekenntnis einer Großtat wird er noch majestätischer und größer:

„Dir haben unsere Ahnen vertraut, sie haben vertraut und du hast sie gerettet. Zu dir riefen sie und wurden befreit, dir vertrauten sie und wurden nicht zuschanden“,

ruft die betende Person Gott zu und will ihn damit zur Rettung auch aus ihrer individuellen Notlage bitten.

Christlich in Bezug auf Jüdisch kann sehr bereichernd sein, wenn es jenseits antijüdischer Exegese und Theologie – aber nicht im Vergessen derselben! – konzipiert und gelebt wird. Ob Jüdisch in Bezug auf Christlich auch einen Mehrwert darstellt, können christliche Menschen weder fordern noch bestimmen. Insbesondere mit unserer Geschichte in deutschsprachigen Ländern können wir uns das nur schenken lassen.

– Irmtraud Fischer


#beziehungsweise: jüdisch und christlich – näher als du denkst

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