Tischa B´av beziehungsweise Israelsonntag

Verbunden im Gedenken: Tischa B´av beziehungsweise Israelsonntag.


Eine christliche Stimme

Kurzfassung

Die Geschichte des „Israelsonntags“ ist wie ein Spiegel und zeigt, wie evangelische Christinnen und Christen jüdische Geschichte und Gegenwart wahrgenommen haben. Am 10. Sonntag nach dem Trinitatisfest – im zeitlichen Umfeld des jüdischen Gedenktags Tischa B’av – wurde seit dem Hochmittelalter in christlichen Gottesdiensten ein Abschnitt aus dem Lukasevangelium gelesen, in dem Jesus über Jerusalem weint und die Zerstörung der Stadt ankündigt (Lk 19,41–48). In der Reformation gewansn dieser Tag als „Gedenktag der Zerstörung Jerusalems“ an Bedeutung. Viel zu häufig wurde Lk 19 dabei als Hinweis auf die vermeintliche ‚Verwerfung‘ des jüdischen Volkes verstanden, weil es Jesus nicht als Messias erkannt habe.

Einige wenige Gemeinden feierten aber auch Klagegottesdienste und brachten eigene Not im Lichte der „Zerstörung Jerusalems“ vor Gott. Erst durch den jüdisch-christlichen Dialog wurde der Israelsonntag zu einem Tag der Freude über die bleibende Erwählung von Jüdinnen und Juden und der Entdeckung dessen, was Juden und Christen verbindet. Davon erzählt das neue Evangelium des Tages (Mk 12,28–34), das auch in der katholischen Leseordnung begegnet. So bedeutet der Tag die Chance zu einem Gedenken, das in eine gemeinsame Zukunft weist und alter wie neuer Judenfeindschaft entschieden entgegentritt.

– Alexander Deeg


Langfassung

Gedenken geschieht aus verschiedensten Gründen und entfaltet unterschiedliche Wirkungen. Die Geschichte des inzwischen so genannten „Israelsonntags“ ist wie ein Spiegel, in dem sich zeigt, wie unterschiedlich christliche Gemeinden der jüdischen Geschichte gedacht haben und was das Gedenken für das Verhältnis von Christen und Juden bedeutete und bedeutet.

Im Judentum erinnert der neunte Tag im sommerlichen Monat Av an die Zerstörung des ersten und des zweiten Tempels in Jerusalem und an weitere Katastrophen in der jüdischen Geschichte. Seit dem 11. Jahrhundert ist belegt, dass am 10. Sonntag nach dem Trinitatisfest und damit im zeitlichen Umfeld des jüdischen Gedenktags in Mess-Gottesdiensten das Evangelium vom Weinen Jesu über Jerusalem gelesen wurde (Lk 19,41–48). Aber erst in der Reformationszeit wurde daraus ein ‚Israelsonntag‘ mit eigener Bedeutung. Dafür ist vor allem die vom Wittenberger Pfarrer und Reformator Johannes Bugenhagen (1485–1558) 1534 zusammengestellte „Historie von der Zerstörung Jerusalems“ verantwortlich. Bugenhagen ließ den Text als Anhang an seine Zusammenfassung der Passionsgeschichte (Passionsharmonie) drucken. Die Passionsharmonie sollte am Karfreitag gelesen werden, der Bericht von der Zerstörung Jerusalems am 10. Sonntag nach Trinitatis. Grob lassen sich in der Geschichte drei Linien der Deutung der „Zerstörung Jerusalems“ nachweisen:

(1) In der für das christliche Verhältnis zu Jüdinnen und Juden problematischsten Interpretation zeigen Christenmenschen selbstgewiss und hochmütig auf das vermeintlich gescheiterte Gottesvolk Israel, das Jesus nicht als seinen Messias erkannt habe und deshalb von Gott gestraft worden sei. Gedenken an die Zerstörung Jerusalems stabilisiert in dieser Deutung christliche Identität durch die Abwertung des Judentums. So ist es in der mittelalterlichen Kunst immer wieder in den Skulpturen zu sehen, die Synagoga und Ecclesia zeigen. Am 10. Sonntag nach Trinitatis wurde in christlichen Kirchen durch die Jahrhunderte auf der Linie dieser Deutung gepredigt und christlicher Antijudaismus verstärkt.

(2) Ebenfalls problematisch ist die Interpretation, nach der sich Israels Schicksal als Warnung für die Christenheit verstehen lasse. Immerhin wird das Gedenken hier nicht zur Selbstbestätigung missbraucht, sondern als kritische Anfrage an das eigene Glauben und Leben verstanden. In der Reformationszeit, die viele als Zeit besonderer göttlicher Heimsuchung sahen, finden sich zahlreiche Predigten, in denen Christinnen und Christen aufgefordert werden, sich nicht so zu verhalten wie einst ‚die Juden‘, sondern das Handeln Gottes zu erkennen. Auch in dieser Deutung bleibt der Blick auf das vermeintliche Versagen des Judentums gerichtet, dem nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 keine positive Bedeutung mehr zugewiesen wird.

(3) Eine andere Interpretation ergab und ergibt sich dort, wo Christenmenschen erkennen, dass Jesus über Jerusalem weint (was von Jesus im gesamten Neuen Testament nur in Lk 19,41 berichtet wird). Die Trauer Jesu über die Zerstörung der Stadt kann für Christinnen und Christen die Aufforderung bedeuten, mit Jüdinnen und Juden über Jerusalem zu klagen und für Jerusalem zu beten (vgl. Ps 122). In einigen wenigen evangelischen Gemeinden wurden am 10. Sonntag nach Trinitatis besondere Klage- und Bittgottesdienste gefeiert, die eigene Not im Licht der Zerstörung Jerusalems vor Gott erinnerten. Nur in dieser Deutung entfaltet das Gedenken an die Zerstörung Jerusalems keine problematische Wirkung, sondern kann in christlich-jüdische Solidarität führen. Dann stehen sich nicht gescheiterte Synagoga und triumphierende Ecclesia gegenüber, sondern – im Bild gesprochen – sitzen beide klagend, fragend, nach Gott suchend und für Jerusalem bittend nebeneinander.

Seit den frühen 1960er Jahren wurde der 10. Sonntag nach Trinitatis in den evangelischen Kirchen in Deutschland „Israelsonntag“ genannt. Unter anderem „Aktion Sühnezeichen – Friedensdienste“ legte Materialien für Predigt und Liturgie vor. Im jüdisch-christlichen Dialog, der nach dem Zweiten Weltkrieg in der katholischen wie in den evangelischen Kirchen geführt wurde, wurde die Einsicht bedeutsam, dass Christinnen und Christen nur mit Israel Anteil haben an Gottes Geschichte der Erwählung und Verheißung (vgl. Röm 15,8–12). Kirche wäre ohne das bleibend (!) erwählte Gottesvolk Israel undenkbar. Anstatt christliche Identität in der Abgrenzung von Israel zu suchen, wurde neu erkannt, dass diese nur mit Israel gefunden werden kann und dass es daher zentral darum geht, immer wieder zu entdecken, was Kirche und Israel verbindet. Aus diesem Grund wurden mit Einführung des neuen „Evangelischen Gottesdienstbuchs“ 1999 zwei Evangelientexte für den 10. Sonntag nach Trinitatis wahlweise vorgeschlagen: Neben der traditionellen Perikope aus Lk 19 war das Mk 12,28–34: Im Gespräch mit einem Schriftgelehrten bestimmt Jesus die Gottes- und Nächstenliebe als Mitte der Gebote. Der Schriftgelehrte stimmt ausdrücklich zu, und Jesus bestätigt die Nähe der beiden. In diesem Abschnitt leuchtet ein neues Miteinander auf: Synagoga und Ecclesia begegnen sich dialogisch. Sie sind verbunden durch den Glauben an den einen Gott und die Einsicht in die Bedeutung der Gebote Gottes als Lebensraum zur „Bewahrung der Freiheit“ (Frank Crüsemann).

In der katholischen Kirche hatte der 10. Sonntag nach Trinitatis nie die Bedeutung, die er seit der Reformation in evangelischen Gemeinden erhielt. In der nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil erarbeiteten und 1969 vorgelegten neuen katholischen Leseordnung erscheint Lk 19,41–48 nicht mehr als Lesungstext für eine Messe an einem Sonn- oder Feiertag. Im Lesejahr A wird am 19. Sonntag im Jahreskreis, der dem 10. Sonntag nach Trinitatis entspricht, Röm 9,1–5 gelesen. Die paulinischen Aussagen über das, was Israel von Gott bleibend gegeben ist, bieten die Möglichkeit, den Israelsonntag in der katholischen Liturgie aufzugreifen. Das gilt auch für den 31. Sonntag im Jahreskreis, in dem Mk 12,28–34 als Evangelium im Lesejahr B gelesen wird. Darüber hinaus begehen katholische Christinnen und Christen in einigen Ländern am 17. Januar den „Tag des Judentums“ – bewusst einen Tag vor Beginn der weltweiten Gebetswoche für die Einheit der Christen, um so die grundlegende Bedeutung der Verbindung mit dem Judentum Ausdruck zu verleihen.

Bei der Revision der Ordnung der Lese- und Predigttexte in den evangelischen Kirchen in Deutschland, die im Jahr 2018 abgeschlossen wurde, sind zwei Möglichkeiten der Gestaltung vorgesehen: (1) Der Israelsonntag, 10. Sonntag nach Trinitatis, sollte in der Regel als Tag der Feier des Miteinanders von „Kirche und Israel“ begangen werden. Mit der Evangelienlesung Mk 12,28–34 steht dann die Freude über das im Mittelpunkt, was Christen und Juden verbindet. Die liturgische Farbe an diesem Tag ist grün. (2) Der Israelsonntag kann aber auch als „Gedenktag der Zerstörung Jerusalems“ gefeiert werden. Die liturgische Farbe ist dann wie in der Passions- und Adventszeit violett – die Farbe der Buße und der Klage. Als Evangelium wird – die alte Tradition aufnehmend – Lk 19,41–48 gelesen und es geht um bußfertiges Gedenken an die Rolle, die Christinnen und Christen bei der Beförderung von christlichem Antijudaismus und neuzeitlichem Antisemitismus spielten.

In beiden Fällen bietet der Israelsonntag die Chance zu einem Gedenken, das in eine gemeinsame Zukunft weist, jedem alten und neuen Antijudaismus und Antisemitismus entgegentritt und hoffentlich immer wieder zu zahlreichen gemeinsamen Aktionen motiviert. Zum Gedenken gehört die Buße, die Übernahme von Verantwortung, aber auch bereits jetzt die Feier der Verheißungen Gottes, die zuerst Israel gelten und nur mit Israel auch der Kirche: „Freut euch, ihr Heiden, mit seinem Volk“ (Dtn 32,43; Röm 15,10).

Literaturhinweis: Irene Mildenberger, Der Israelsonntag. Gedenktag der Zerstörung Jerusalems. Untersuchungen zu seiner homiletischen und liturgischen Gestaltung in der evangelischen Tradition, SKI 22, Berlin 2004.

– Alexander Deeg


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