Tischa B´av beziehungsweise Israelsonntag

Verbunden im Gedenken: Tischa B´av beziehungsweise Israelsonntag.


Eine jüdische Stimme

Kurzfassung

„Wenn ich dein vergesse, Jerusalem, soll meine rechte Hand verdorren, meine Zunge soll am Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht gedenke.“

Diese Worte des 137. Psalms widerspiegeln die Bedeutung der Zionsstadt für Israel. Hier stand der Tempel, in dem Gottes Gegenwart unmittelbar spürbar war, die Stadt war religiöses und politisches Zentrum. Doch mit der Zerstörung von Heiligtum und Stadt durch die Römer im Jahr 70 n. war Israel seiner Mitte beraubt, das Volk wurde auf Jahrhunderte ins Exil getrieben. An diese Katastrophe erinnert Tischah BeAw, der Trauertag, der mit Fasten und Trauergesängen verbracht wird. Das Rezitieren biblischen Klagelieder vergegenwärtigt den Verlust.

Doch das Judentum verharrte nicht in der Zerstörung. Jerusalem blieb als Fokus präsent, indem die Gebete dorthin ausgerichtet werden, in Feier- und Fastentagen wie auch bei traurigen wie freudigen Anlässen der Stadt gedacht wird. Aber jüdisches Leben ging weiter und kehrte nach Jerusalem zurück. Bis heute eint Menschen weltweit die Hoffnung auf Zion als Ort, wo „Liebe und Wahrheit sich begegnen, Gerechtigkeit und Frieden sich küssen“ (Ps 85, 11).

– Rabbinerin Dr.in Ulrike Offenberg


Langfassung

Eine Legende erzählt von einer Kutschfahrt Napoleons durch die Straßen von Paris. Als er an einer Synagoge vorbeikam, drang lautes Klagen und Weinen an sein Ohr. Er schickte Leute aus seiner Entourage, um in Erfahrung zu bringen, was geschehen sei. Sie kehrten mit der Antwort zurück: „Die Juden weinen über die Zerstörung ihres Tempels“. Napoleon war sehr erstaunt: „Welcher Tempel wurde zerstört? Wer war das? Warum hat man mir darüber nicht berichtet?“. Aber es stellte sich heraus, dass es um den Tempel in Jerusalem ging, und dessen Zerstörung schon viele Jahrhunderte zurücklag.

Ob die Geschichte sich so zugetragen, ist fraglich. Aber es ist zutreffend, dass sich bis heute Juden und Jüdinnen überall auf der Welt am 9. Tag des Monats Aw in den Synagogen versammeln und Klagegesänge anstimmen. An diesem Tag, dem Tischah BeAw, wird die Zerstörung des Ersten Tempels in Jerusalem durch die Babylonier im Jahr 586 v. als auch des Zweiten Tempels durch die Römer im Jahr 70 n. und die folgende Vertreibung des jüdischen Volkes ins Exil (Galut) betrauert.

Tischah BeAw wird auch das „Schwarze Fasten“ genannt. Die Synagogen sind nur spärlich beleuchtet, Schmuck wie die Vorhänge vor dem Aron HaKodesch oder auf der Bimah ist entfernt, die Gemeinde sitzt auf dem Boden oder auf niedrigen Bänken und liest Klagegesänge. Es ist ein ähnlich strenger Fastentag wie Jom Kippur, von Abend bis zum folgenden Abend isst und trinkt man nichts. Durch die Lesung des biblischen Buchs der Klagelieder werden die Geschehnisse um die Zerstörung Jerusalems und des Tempels vergegenwärtigt. In dramatischen Schilderungen beschreiben diese Texte das Unglück der Stadt, die ihre Kinder verloren hat. Diese wurden ins Exil weggeführt, geschlagen, bespuckt und getötet; Grausamkeit und Hunger herrschen in Zion, das Heiligtum in seiner Mitte ist zerstört. Wohl und Wehe der Stadt war seit jeher Spiegel der Beziehungen zwischen Gott und Israel. In guten Zeiten ist Jerusalem die „Stadt auf dem Berge“, von der die Torah, das Wort Gottes, ausgeht. Der Tempel wurde als „Fußschemel Gottes“ bezeichnet, der Rauch der Brandopfer stieg senkrecht nach oben zu Gott, hier ist das „Tor des Himmels“.

Für das Judentum war Jerusalem seit jeher der Mittelpunkt der Welt. Der Tradition zufolge wurde der Tempel auf demselben Gründungsstein errichtet, auf dem die ganze Schöpfung ruht – „von Zion aus wurde die Welt erschaffen“, so drückt es der Babylonische Talmud (Joma 54 b) aus. Und seit 3.000 Jahren steht Jerusalem im Zentrum jüdischen Lebens und Betens:

„Wer in der Diaspora betet, richte sein Herz auf das Land Israel, wie es heißt: ‚Und sie beten zu dir nach ihrem Land hin’. Wer innerhalb des Landes Israel betet, richte sein Herz auf Jerusalem, wie es heißt (1 Kön 8, 44-45): ‚Und sie werden beten nach der Stadt hin, die du erwählst, und dem Hause, das deinem erbaut. So höre im Himmel ihr Gebet und ihr Flehen, und tue was ihnen not ist’.“ (Babylonischer Talmud, Berachot 30a)

Nach der Zerstörung des Ersten Tempels und mit Ende des Babylonischen Exils war es immerhin möglich, das Heiligtum wieder zu errichten, Stadt und Land zu bevölkern und Jerusalem erneut zum religiösen und politischen Zentrum Israels zu machen. Aber nach der Katastrophe des Jahres 70, als die Römer den Aufstand der Juden niederschlugen und den Zweiten Tempel völlig zerstörten, hielt dieser Zustand an und wurde zementiert durch die Errichtung erst römischer, dann christlicher und später muslimischer Heiligtümer auf dem Tempelberg. Was nun? Sollte man Jerusalem ganz aufgeben? Wohin würde man sich dann im Gebet wenden? Die rabbinische Literatur dokumentiert den Verlust, den Schmerz, die Ratlosigkeit und die verschiedenen Versuche, mit dem Fehlen dieser Mitte umzugehen.

Die Rabbiner entschieden, Jerusalem als ideelles Zentrum beizubehalten, ohne dass die Stadt selbst zugänglich oder als Ort des Gottesdienstes operabel war. Auf diese Weise blieb der Fokus auf die Stadt und ihr Heiligtum erhalten und formte fortan jüdische Frömmigkeit und jüdischen Lebensvollzug. Die Synagoge wurde zum „Kleinen Heiligtum“, an die Stelle der Opfer im Tempel traten die Gebete („die Stiere unserer Lippen“, Hos 14, 3), zum Mittelpunkt des Gottesdienstes wurde die Torahlesung. Der Zyklus der Prophetenlesungen hält die Erinnerung an das verlorene Heiligtum wach. Und auch im Kalender ist Jerusalem ständig präsent. Die Feiertage Pessach, Schawuot und Sukkot sind Feste der Wallfahrt nach Jerusalem, Chanukka feiert die Wiedereinweihung des Tempels nach dem Makkabäeraufstand, vier von fünf Fastentagen erinnern an den „Churban“, wie die Zerstörung von Stadt und Heiligtum auf Hebräisch bezeichnet wird. Besonders intensiv ist der Tischah BeAw mit seinem 25-stündigen Fasten, den Trauergesängen und der Rezitation der Klagelieder Jeremiae.

Neben diese kollektive Praxis von Feier-, Fasten- und Gedenktagen treten die mit Jerusalem verbundenen Riten des individuellen Lebenszyklus. Bei der Eheschließung unter der Chuppah wird ein Glas zertreten, dessen Scherben die Trauer um den zerstörten Tempel symbolisieren sollen. Nach einer Beerdigung wird den Hinterbliebenen mit den Worten kondoliert: „Möge dich der Ewige trösten inmitten der um Zion und Jerusalem Trauernden“. Manche lassen nach wie vor ein kleines Wandstück ihres Hauses ungestrichen, in vielen Wohnungen hängt ein „Misrach“, der die Richtung nach Jerusalem angibt. Das Gebet für den Aufbau der Stadt Jerusalem und die Wiederherstellung des Tempeldienstes ist nicht nur drei Mal täglich Bestandteil des Achtzehn-Bitten-Gebets, sondern ebenso des Tischgebets nach jeder Mahlzeit. Beim Sederabend zu Pessach und beim Ausgang von Jom Kippur wird der Hoffnung Ausdruck gegeben, diesen Festtag nächstes Jahr im wiederaufgebauten Jerusalem zu feiern.

Die Geschichte und die Idee von Jerusalem als religiös-geographischem Mittelpunkt des Judentums war über die Jahrtausende des Exils hin so wirkmächtig, dass sie auch in ihrer säkularisierten Form eine enorme Mobilisierungskraft aufwies. Der in der Ukraine geborene israelische Schriftsteller Schmu’el Josef Agnon sagte in seiner Dankrede für den Literatur-Nobelpreis 1966:

„Auf Grund der historischen Katastrophe, dass der römische Herrscher Titus Jerusalem zerstörte und das Volk Israel ins Exil trieb, kam ich in einer Stadt in der Galut [im Exil] zur Welt, aber gleichzeitig habe ich mich immer als jemand verstanden, der in Jerusalem geboren wurde“.

Damit brachte er zum Ausdruck, wie sehr sich Juden und Jüdinnen über die Jahrtausende hinweg eine tiefe Verbundenheit mit Jerusalem bewahrten – bis dahin, dass sich die moderne jüdische Nationalbewegung nach der Zionsstadt benannte.

Die Trauer um die Zerstörung der Stadt Jerusalem und des Heiligtums durch die Babylonier und später erneut durch die Römer ist in der jüdischen Geschichte zu einer Art Phantomschmerz geworden, ähnlich einer amputierten Gliedmaße, die nicht mehr vorhanden ist, deren Schmerz aber noch zu spüren ist, weil die Nervenverbindungen zum Gehirn noch bestehen. Daneben hat die jüdische Tradition den Tischah BeAw als Gedenktag für weitere tragische Ereignisse in der Geschichte des Volkes Israel verankert: Zum Beispiel die Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes im Jahr 135 mit hunderttausenden toten oder in die Sklaverei deportierten Jüdinnen und Juden. Oder die Vertreibung der Juden aus England im Jahr 1290 und aus Spanien im Jahr 1492. Auch die Brandstiftung in der Synagoge von Exeter/Großbritannien am 9. Aw des Jahres 2019 verdeutlicht, dass antisemitische Verfolgungen bis in die Gegenwart reichen. Über die Jahrhunderte hinweg ist die Liturgie des Tischah BeAw immer wieder um neue Texte und Lieder erweitert worden, die an historische Katastrophen nach der Tempelzerstörung erinnern. In vielen Synagogen ist es heute auch üblich, an die Schoah zu erinnern.

Wenngleich Tischah BeAw noch immer in Trauer verbracht wird, als wäre Zerstörung das letzte Wort der Geschichte gewesen, so ist doch an den übrigen Tagen des Jahres das Bewusstsein gegenwärtig, dass Jerusalem wieder zu neuem Leben erwacht ist. Die Stadt ist kein menschenleerer Trümmerhaufen mehr, und trotz aller politischen und sozialen Probleme scheint die Vision des Propheten Sacharja verwirklicht, in der es heißt (Sach 8, 4-5):

„Wiederum werden Greise und Greisinnen in den Straßen Jerusalem sitzen, jeglicher seinen Stock in der Hand vor Fülle an Jahren. Und die Straßen der Stadt werden voll sein von Jungen und Mädchen, die in ihren Straßen spielen.“

– Rabbinerin Dr.in Ulrike Offenberg  


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